Briefe und Erinnerungen   Brief von Sophie Rosenfelder, Mutter von Franziska, Jakobine und Selma Rosenfelder, aus Theresienstadt, nach der Befreiung im Mai 1945. Abschrift von Sophie Rosenfelders Enkel Hermann Steinberg (später Herman Stone), datiert »Konradshofen, den 21.8.1945«

Der folgende Brieftext, der in einer Abschrift (Typoskript) erhalten ist, wurde redaktionell durch Absätze gegliedert und moderner Schreibweise angenähert. Textergänzungen und Erläuterungen sind in eckige Klammern gesetzt. Ein kleiner Passus, der auf der vorliegenden Fotokopie nicht zu entziffern ist, wurde nach Herman Stones englischer Übersetzung rekonstruiert und steht ebenfalls in eckigen Klammern. Zu den mit * gekennzeichneten Begriffen und zu den meisten erwähnten Personen finden sich unten Erläuterungen.

»Theresienstadt 42–45

Meine lieben Kinder und Enkelkinder!

Es ist mir ein Bedürfnis, Euch von meinem Ghettoleben zu berichten.

Der Abschied von der Heimat war sehr ergreifend. Einen Tag mussten wir in ein Lager nach Milbertshofen [nördlicher Stadtteil von München]. Dort war strenge Gepäckkontrolle; mir wurde meine seidene Daunendecke abgenommen. Ich war sehr unglücklich. Stefan gab mir in seiner bekannt lieben Art seine. Er hatte nur eine Wolldecke. Selma und Stefan sind freiwillig meinetwegen mitgefahren. Ich war ruhiger und schätzte dieses Opfer.

Am nächsten Tag sind wir hierher gefahren – 36 Stunden. Im Zuge waren nur Münchener Bekannte und Unbekannte. Wir unterhielten uns ganz gut – es hatte den Schein einer Vergnügungsreise. Bei strömendem Regen mussten wir eine Station früher aussteigen und mit dem Gepäck eine Stunde laufen. Nach langem Warten wurden wir in unser Quartier geführt – in eine Scheune, am Boden mussten wir schlafen. Es war hart, ungewohnt – man war müde und hat geschlafen. Schlimmer war das Erwachen! An die Wände wurden Nägel geschlagen, um die Kleider aufzuhängen. Nach 3 Tagen bekamen wir unsere Bettrollen*. Die Koffer bekamen wir überhaupt nicht mehr. Dies war natürlich ein großer Schrecken, man konnte aber nichts machen.

Die ersten Tage schmeckte uns nichts. Dann kam der Hunger – wir haben gegessen. Morgens schlechten Kaffee, mittags schlechte Linsensuppe und Kartoffel. Manchmal eine Buchtel*. Das ist wie eine Rohrnudel. Abends wieder Kaffee oder Suppe. Das Essen musste man in Reihen holen; ein her[z]ergreifender Anblick! Am Anfang in Begleitung, später durften wir allein ausgehen.

In der Nähe wohnte Onkel Joseph, Fritz und Anna. Wir sind täglich beisammen gewesen. Leider war Fritz nur 6 Wochen hier und ist an einer Herzschwäche gestorben. Joseph verschied im November an einer Lungenentzündung. Traurig musste ich die beiden Brüder zur fremden Erde begleiten. Nun durften wir ausgehen. Ich ging spazieren, es war kein Genuss. Die Menschen saßen vor den Häusern, alt, gebrechlich und schlecht aussehend. Die Straßen und Höfe schmutzig, verwahrlost, nirgends Bäume oder Blumen. Theresienstadt ist eine Garnisonstadt mit 12 Kasernen. Ein erschütternder Anblick ist, wenn man ein Krankenhaus besucht. Auch Siechenheime* – wie primitiv die Menschen untergebracht sind! Die Stadt hat 56.000 Leute aufgenommen, alle Nationen sind vertreten, alle Berufe und Handwerke. Viele fromme Juden sind hier, bewusste Juden. Freitag Abend und Samstag ist auf dem Dachboden Gottesdienst. Man geht wieder beruhigter nach Hause.

Selma muss 8–10 Stunden im Arbeitseinsatz arbeiten. Stefan in einem Technischen Bureau. Ich beschäftigte mich zu Hause. Nur bis 65 Jahre muss man arbeiten. Wir leiden und hungern. Die Feiertage kamen – es gibt keinen Unterschied. Es wird Samstag und Sonntag gearbeitet.

Im Oktober mussten wir endlich übersiedeln in ein schönes Haus. Wir bewohnten ein großes Zimmer mit 15 Damen. Selma wohnte bei mir, Stefan in einer Kaserne. Wir mussten wieder am Boden liegen, aber auf Matratzen. Stefan besorgte einen Ofen, wir hatten warmes Wasser und konnten kochen. Ich wurde als Zimmerkommandantin gewählt, doch das ist mehr Ehrensache. Man hat nur für Ordnung und Ruhe zu sorgen. Außerdem die zugewiesenen Lebensmittel zu verteilen.

Nach zwei Monaten habe ich die hohen Fenster verdunkelt. Bin gefallen und habe den linken Arm gebrochen. Nachts bekam ich noch von einem ersten Chirurgen einen Gipsverband und musste 10 Tage in eine Marodenstube*. Ich hatte Tag und Nacht wahnsinnige Schmerzen auszuhalten. Dann kam ich wieder nach Hause, war hilflos, traurig und elend. Selma hat mich mit großer Kindesliebe gepflegt. Durch die schlechte Ernährung bin ich sehr heruntergekommen. Nach sechs Wochen kam der Gipsverband weg. Eine Röntgenaufnahme zeigte, dass der Arm geheilt ist. Dann bekam ich noch wochenlang Solusbestrahlung [Solluxbestrahlung: Wärmebehandlung] und Massage. So war ich glücklich, dass ich wieder alles arbeiten konnte.

Das Leben ist hier schwer – noch schwerer, und der Hunger noch größer. Die Liebe zu Euch und Gottvertrauen gab mir die Kraft, dies alles zu ertragen, sonst wäre ich verzweifelt. Ein schwerer Winter kam. Auch dies habe ich überwunden. Endlich kam ein Lebenszeichen von Zuhause. Max und Willy schickten Liebespakete. Diese Freude kann ich gar nicht beschreiben. Man musste die Pakete mit Ausweis abholen und sah dort hunderte Menschen mit frohen Gesichtern.

[Es war ein Festtag. Wir stürzten uns darauf wie hungrige Wölfe. Der Inhalt war immer so nett ausgesucht, gut und liebevoll zusammengestellt. Das] wiederholte sich fleißig und wir konnten alles gut brauchen. Auch Erna Bayer und Prexens schickten uns ab und zu schöne Pakete. Erna legte immer Geld bei. Wir kauften dafür Brot, weil es zu wenig war.

Nun kam es besser. Selma hat mit viel Mühe und Protektion einen Vertrauensposten als Menarchkommission*. Sie musste die Lebensmittel ausgeben – außerdem bei der Essensausgabe* helfen. Dadurch hatten wir immer genug. Auch allen Verwandten und Bekannten hat sie genug gegeben.

Viele Münchener und die meisten Augsburger waren hier. Leider sind schon sehr viele gestorben. Darunter auch Fanny Reiter, Frau Rosenstiehl und 3 Cousinen von mir. Augsburger alle und Münchener 90%. Es sind täglich ca. 100 Beerdigungen. Der Akt wird in einer Leichenhalle nach jüdischem Ritus von einem Rabbiner und Kantor vollzogen. Die Leichen werden verbrannt. Es ist ein ganz besonderes Glück, wenn man hier gesund bleibt.

Die Juden haben Staunenswertes geleistet. Sie haben durch ihren Fleiß und Tüchtigkeit die ganze Stadt modernisiert, eine Bahn gebaut und prachtvolle Parkanlagen angelegt.

Nun kam mein 70. Geburtstag [8. Februar 1943]. Selma beschenkte mich mit einem Auszugsbett. Ich kam mir wie eine Königin vor. Außerdem einen Kuchen und Süßigkeiten, was man hier bekommen kann. Stefan überreichte mir ein Gedicht auch in Euerm Sinn.

So vergeht die Zeit. Man lebt, es ist aber kein Leben. Organisiert ist hier alles sehr gut. Jeden Tag kommt der Arzt und die Schwester verabreicht Medikamente. Die Wäsche wird gewaschen und kommt in kurzer Zeit sauber zurück. Für Kleider, Wäsche und Schuhe gibt es Reparaturwerkstätte[n]. Im Monat bekommt man 50 Ghettokronen*. Dafür kann man sich im Geschäft etwas kaufen. Es gibt aber nur alte getragene Sachen.

Auch ein Kaffeehaus* ist hier. Mit einer Karte bekommt man schwarzen Kaffee mit Zucker. Die Aufmachung ist wie in einer Stadt mit gutem Orchester. Ins Kabarett kann man auch gehen. Im Sommer im Freien – bei schlechtem Wetter auf dem Dachboden. Aus allen Großstädten sind hervorragende Künstler vertreten. Manchmal gehen wir hin – man hat kein Interesse – es ist nur ein kurzes Vergessen. Die Tschechen spielen eine große Rolle. Es sind tüchtige, fesche Menschen. Sonst leben sie sehr zurückgezogen.

Inzwischen ist wieder ein Jahr vergangen. Stefan hat im Frühjahr eine große Stellung als Bauhofleiter bekommen. Bauhof ist ein großes Grundstück, worin sämtliche Werkstätten und Fabriken sind. Es ist eine große Verantwortung. Er bekam aber ein schön eingerichtetes Zimmer und Selma konnte endlich mit ihm zusammenwohnen. Ich blieb in der alten Wohnung. Nur Beschäftigte durften dort sein. Auch ein Stück Garten hatten sie zur Verfügung. Ich ging morgens um 9 Uhr hin und abends brachten sie mich nach Hause. Ich habe gekocht, gewaschen, genäht und das Essen verbessert und vorbereitet, bis sie von der Arbeit kamen. Ich habe neue Kartoffelrezepte zusammengestellt und immer hat es gut geschmeckt. Man ist satt geworden und hat menschlich gelebt.

Leider hat es nur ¾ Jahr gedauert. Dann musste Stefan zum Transport in ein Arbeitslager. Eine Woche später auch Selma. Ich weiß aber heute nach 7 Monaten nicht wohin. Man musste das Zimmer abgeben und ich war allein und verlassen und habe weitergehungert. Aus Deutschland durften auch keine Pakete mehr kommen. Ich war ganz gebrochen. Nur immer die Sehnsucht nach Euch, meine Lieben, hat mir Halt und Kraft gegeben. Inzwischen sind meine Enkelkinder herangewachsen. Haben sie wohl ihre Oma vergessen? Ich glaube nicht. Sie werden es fühlen, wie lieb ich sie habe. Mein letzter Wunsch wäre, sie alle wieder zu sehen.

Im strengsten Winter musste ich dann ausziehen. Kam nach Wunsch in ein Altersheim. Es hatte Licht- und Schattenseiten. Dort bin ich mit viel Damen zusammen. Auch daran habe ich mich gewöhnt. Jeder hatte viel zu erzählen. Ich habe nie gewusst, dass es soviel Leiden, Kummer und Elend gibt.

Wieder kam mein Geburtstag. Ich war ganz allein und froh, wie der Tag vorüber war.

Ende Februar kam Willy hierher. Ihr könnt Euch diese Freude und Überraschung gar nicht vorstellen. Wir sind täglich beisammen. Er hat einen angenehmen Posten im Büro. Aber leider brachte er mir eine sehr betrübende Nachricht, dass Max bombenbeschädigt ist. Elly ist mit dem Kleinen bei Fischach. Ilse in einer Drogerie in Augsburg. Horst in Jena in einem Arbeitslager.

Max ist vermisst und bis heute habe ich nichts erfahren können. Dieser Schmerz ist für eine Mutter groß. Hoffentlich ist er am Leben und wieder bei seiner Familie. Auch dieses muss ich ertragen und abwarten. Immer wieder bittet man den lieben Gott um Erlösung.

Und endlich Mitte Mai kam der langersehnte Frieden. Das Ghetto liegt jetzt in russischen Händen. Über die weiteren Details gibt es in der deutschen Sprache keine Worte. Wann wir hier herauskommen, wissen wir nicht. Wenn es geht, will mich Willy mitnehmen. Ich bin abgemagert, alt, entkräftet und arm. Für Euch wünsche ich, dass Ihr von einem solchen Schicksal verschont bleiben möget. So grüße und küsse ich Euch alle 1000mal herzlichst

Eure Euch sehr liebende Mutter und Oma

Nachschrift von Herman Stone: Max und Willy haben überlebt. Von Selma und Stefan war keine Spur zu finden.

Erläuterungen (nach H.G. Adlers Theresienstädter »Wörterverzeichnis«, in: Ders., Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Reprint der 2. Aufl. 1960, Göttingen 1905, S. XXIX-XLIX):

Bettrolle. Bei Deportationen nach und aus Theresienstadt wurden Decken, Polster und anderes zusammengerollt und, mit oder ohne Schutzhülle, verschnürt und mit einem Trageband versehen.
Buchten, Buchteln. Kuchen, böhmisches Nationalgericht, wurden ab 1943 einmal wöchentlich als Mittagessen ausgegeben.
Essensausgabe. So nannte man sowohl die Verteuilung der Mahlzeiten als auch die Küchenschalter oder andere Stellen, wo Mahlzeiten verteilt wurden.
Ghettogeld wurde im Mai 1943 ausgegeben, das mehr einer Spielerei und der Propaganda der SS als praktischen Bedürfnissen diente.
Ghettokrone. Einheit des Ghettogeldes. Die Scheine warenin Größe und Farbe verschieden, aber einheitlich in der Zeichnung, nominell gleichwertig einer Protektoratskrone = 0,10 RM. Sie wurden jedoch nicht als Geldschein oder Banknote, sondern nur als »Quittung«  bezeichnet.
Kaffeehaus. Räume, die ein herkömmliches Kaffeehaus vortäuschen sollten, seit Dezember 1942. Der Zugang war nur gelegentlich mit zugeteilten Karten, die zwei Stunden lang gültig waren, erlaubt.
Marodenzimmer. Krankenstube, Begriff aus der österreichischen Militärsprache.
Menarchkommission = Menagekommission. Dreigliedrige Körperschaft zur Überwachung der ordnungsgemäßen Verwendung der Lebensmittel und der Essenausgabe in den Küchen. Funktionsdauer drei Monate.
Siech, Siecher. Die Mehrzahl der alten Menschen in Theresienstadt war kränklich und gebrechlich. Man nannte sie offiziell Sieche. Der Ausdruck bürgerte sich allgemein ein für körperlich und seelisch heruntergekommene Menschen, synonym mit »Muselmann«  oder »müder Scheich«  in der Sprache anderer Lager.
Siechenheim. »Sieche« wurden in »Siechen-« oder »Altersheimen« untergebracht. »Siechenheim« war ein Schreckensbegriff.

 

Sophie Rosenfelder und einige der in ihrem Brief erwähnten Personen sind im Theresienstädter Gedenkbuch verzeichnet: Institut Theresienstädter Initiative (Hrsg.), Theresienstädter Gedenkbuch. Die Opfer der Judentransporte aus Deutschland nach Theresienstadt 1942–1945, Prag 2000.

Hier finden sich die folgenden Angaben:

Sophie Rosenfelder, geb. Reiter: geb. 1873, Ankunft in Theresienstadt 23.7.1942, ebendort befreit im Mai 1945.

Anna Reiter: Sophie Rosenfelders Schwägerin (Joseph Reiters Ehefrau), geb. 1881, Ankunft in Theresienstadt 11.7.1942, deportiert nach Auschwitz 18.5.1944.

Fanny Reiter: Cousine Sophie Rosenfelders, geb. 1873, Ankunft in Theresienstadt 30.7.1942, gest. ebendort 19.1.1943.

Fritz Reiter: Sophie Rosenfelders jüngerer Bruder, geb. 1873, Ankunft in Theresienstadt 11.7.1942, gest. ebendort 10.8.1942.

Joseph Reiter: Sophie Rosenfelders älterer Bruder, geb. 1869, Ankunft in Theresienstadt 11.7.1942, gest. ebendort 8.11.1942.

Ida Rosenstiel: Freundin Sophie Rosenfelders, geb. 1864, Ankunft in Theresienstadt 12.6.1942, gest. ebendort 25.5.1943.

Selma Sänger, geb. Rosenfelder: Sophie Rosenfelders jüngste Tochter, geb. 1906, Ankunft in Theresienstadt 23.7.1942, deportiert nach Auschwitz 6.10.1944.

Stefan Sänger: Schwiegersohn Sophie Rosenfelders (Selma Rosenfelders Ehemann), geb. 1897, Ankunft in Theresienstadt 23.7.1942, deportiert nach Auschwitz 1.10.1944.

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