Briefe und Erinnerungen   Maschinenschriftlicher Brief von Eugen Nerdinger an Arie Weil, 17. Januar 1986


Zu einigen der erwähnten Personen und zu den mit * markierten Einrichtungen gibt es unten Erläuterungen.

»Sehr geehrter Herr Weil!

In der Tat: Ihr Schreiben vom 20.12.85 hat mich aufs höchste überrascht; ich wusste nicht, dass Marianne einen Bruder hatte – wusste auch nicht, dass Sie im August in Augsburg waren. (Um diese Zeit lag ich in einem Krankenhaus in Italien!) Gerne hätte ich mit Ihnen über die mir bekannten Details jener unseligen Jahre gesprochen, als ich mit Ihrer Schwester an der Kunstschule der Stadt Augsburg* unter dem Studienprofessor Fritz Döllgast und dem Studienrat Georg Meyer Grafik studierte. Außer der umseitig geschilderten Notiz kann ich wenig an konkreten Fakten mitteilen. Nur einmal begegnete mir der Name Marianne Weil – kurz nach dem 2. Weltkrieg in einer Zeitschrift – ich glaube es war eine von den Amerikanern zensierte Kunstschrift* – in der ein mehrfarbiges ganzseitiges Blumenblatt abgebildet war, das ich auf den ersten Blick als eine Arbeit Mariannes erkannte. In der darunterstehenden Legende wurde mitgeteilt, dass die namentlich genannte Verfasserin die Arbeit im KZ Theresienstadt* angefertigt und dort gestorben sei. Auf dieser Mitteilung gründet auch mein Bericht an die sozialdemokratische Widerstandsorganisation ›Neu Beginnen‹, die unter Waldemar von Knoeringen in Neuern, CSR, ins Reich wirkte. Die Nachricht ging über Bebo Wager, Leiter der ›Revolutionären Sozialisten Augsburg‹ an ihn; Wager wurde im April 1942 verhaftet, im Mai 1943 in Innsbruck vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 12. August 1943 in München-Stadelheim hingerichtet. – Ich erinnere mich an Marianne sehr gut, weil sie in der Schule eine Reihe hinter mir saß, sie mir vertraute – auch darum, weil ich unter meinen Freunden eine Reihe von Juden aus der Jugendbewegung hatte – darunter der spätere Verleger und Buchhändler Hein Kohn, sein Cousin Walther Kohn, der heute in Kalifornien lebt und den Fabrikantensohn Fritz Raff, der vor 5 Jahren in Amerika starb.

Marianne ist fest in meiner Erinnerung und ich kann sie auch ohne Foto – von denen es übrigens noch einige geben muss und nach denen ich fahnden werde, schildern. Sie wurden auf Studienfahrten gemacht; eines davon – ein Gruppenfoto bei einem Besuch in der Pinakothek in München wurde bei einer Döllgast-Gedächtnisausstellung gezeigt und stammt von einem Mitschüler, dem bekannten Ballonfahrer Alfred Eckert. Vielleicht kann man einen Abzug – so ein Negativ noch besteht oder eine Reproduktion machen. Ich werde mich bemühen. Marianne ist mir als mittelgroßes, schlankes Mädchen in Erinnerung, schwarzes Haar, gescheitelt und in zwei kräftigen Zöpfen den Rücken hinabhängend. Sie war sehr intelligent, in der malerischen und zeichnerischen Darstellung sehr begabt und gewissenhaft. Ein bisschen spröde und auf Distanz bedacht – angesichts einer begeisterten Hitlerjugendschar von Mitschülern nicht verwunderlich. Dennoch war sie mutig und stolz und ihre Vorbildung in – war es ›Stetten‹ oder ›Maria-Theresiaschule‹ – gab ihr im sprachlichen und darstellerischen Ausdruck einen deutlichen Vorsprung. Bei dem umseitig geschilderten Treffen hielt sie nur mühsam ihre Angst und die Tränen zurück. Dennoch glaube ich, dass weder sie noch ich der vollen Tragweite der auf uns zukommenden Gewalttaten voll bewusst waren – trotz Kristallnacht und zunehmender Feindseligkeit gegen die Juden. – Nach dem Krieg sagten meine Freunde und ich, dass tausend Jahre vergehen werden, ehe das Grauen, das Hitler über die Menschheit brachte – gesühnt sein werde.
Lieber, lieber Herr Weil, haben wir uns darin getäuscht; es bleibt uns nur eine traurigmachende Scham.

Herzlichst Ihr Eugen und Gertrud Nerdinger 17 – 1 – 1986«


Die gedruckte Notiz, auf die Nerdinger verweist und die er dem Brief beilegte, ist durch die Bezeichnung »Meldung Nerdingers im Frühjahr« eingeleitet. Der Text lautet:

»Auseinandersetzung in der Klasse Prof. Fritz Döllgast um eine Jüdin – Marianne Weil. Ihr war von einem mitstudierenden Volksschullehrer vorgeworfen worden, in einer gegebenen Klassenaufgabe ›Leuchte‹, einen siebenarmigen Leuchter als Aufgabenlösung abgeliefert zu haben, was er und schließlich die ganze Klasse als einen Affront gegen die nationalsozialistischen Überzeugungen der Schülerschaft bezeichnete. Kurz darauf wurde Marianne Weil von der Schule entfernt, mit ihren Eltern aus ihrer Wohnung vertrieben und zusammen mit sechs jüdischen Familien auf einem Dachboden in einem Hause im Äußeren Pfaffengässchen* bis zu ihrer ›Weiterverfrachtung‹ nach dem KZ Theresienstadt, untergebracht. Nerdinger sah sie noch kurz vorher und sprach mit ihr, die zwar tapfer, aber mit Bitternis von ihrem angeblichen Untermenschentum sprach und wie sie sich, die sich als Deutsche empfand, von ihrer Umgebung gedemütigt, verachtet und misshandelt fühlte. Marianne starb in Theresienstadt.«

Es handelt sich hierbei um einen Ausschnitt aus Nerdingers Buch Brüder, zum Licht empor (1984). Dieses Buch ist als ein »Beitrag zur Geschichte der Augsburger Arbeiterbewegung« verfasst; Nerdinger gibt darin nicht zuletzt Rechenschaft über seine Mitarbeit in der sozialdemokratischen Widerstandsgruppe »Revolutionäre Sozialisten« in Augsburg während der Jahre 1933–1942. Die »Meldung« erscheint unter dem Berichtsjahr 1939. Das passt nicht völlig zu ihrem Inhalt, weil Nerdinger 1939 noch nichts von einer drohenden Deportation Marianne Weils nach Theresienstadt wissen konnte; solche Deportationen setzten erst 1942 ein. Es ist also damit zu rechnen, dass Nerdinger seine »Meldung« von 1939 aufgrund späterer Informationen für den Druck des Buches ergänzt hat.


Erläuterungen

Friedrich (»Fritz«) Döllgast (1889–1962): Zeichner und Maler, ab 1925 Leiter der Grafikklasse in der Städtischen Kunstschule Augsburg, ab 1932 Leiter der Schule, bis diese 1944 kriegsbedingt geschlossen werden musste. Lisa Beck und Eugen Nerdinger schreiben in ihrer Monografie Dreihundert Jahre Schule für Gestaltung in Augsburg (1987): »Eine ganze Generation vor und nach dem zweiten Weltkrieg tätiger Augsburger und schwäbischer Grafiker und Künstler verehrten den hervorragenden Zeichner, Aquarellisten und Holzschneider als ihren Lehrer, der ihnen das künstlerische und handwerkliche Rüstzeug für ihren Beruf vermittelt hatte.«

Alfred Eckert (geb. 1916): Ballonflieger, Schriftsteller und Reprotechniker. Eckert gehörte der Widerstandsorganisation »Revolutionäre Sozialisten« an, die in Augsburg von Bebo Wager angeführt wurde und in der auch Eugen Nerdinger tätig war. Als die Gruppe 1942 aufflog, war Eckert Frontsoldat; er wurde vernommen, jedoch nicht der Gestapo ausgeliefert. Zwischen 1961 und 1966 unterrichtete Eckert mehrmals Reprotechnik an der Augsburger Werkkunstschule. Seine Sammlung von Aeronautica ist der Grundstock des Ballon-Museums Gersthofen (bei Augsburg).

Waldemar von Knoeringen (1906–1971): Münchner Sozialdemokrat. 1933 emigrierte Knoeringen nach Österreich und betätigte sich zunächst in der SPD und der Sopade (beides damals illegale sozialdemokratische Organisationen), dann von Böhmen aus in der Widerstandsgruppe »Neu Beginnen«, die mit süddeutschen und österreichischen Gruppen kooperierte, u.a. mit der Augsburger Abteilung der »Revolutionären Sozialisten«. Knoeringen galt bald in beiden Gruppen als maßgeblicher Kopf. Während des Krieges arbeitete Knoeringen bei der BBC in London. Ab 1946 spielte er eine führende Rolle in der bayerischen SPD, u.a. als Landesvorsitzender und als Fraktionsvorsitzender im Bayerischen Landtag.

Hein Kohn (1907–1979): Verleger und Literaturagent. Kohn legte während seines Exils in den Niederlanden 1933–1952 eine große Sammlung von Exil-Literatur an (heute in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn). Während seiner letzten Lebensjahre war er Mitherausgeber der »Bibliothek der verbrannten Bücher« im Konkret Literatur-Verlag.

Georg Meyer (1898–1960): Zeichner und Maler. Von 1935 bis 1944 gab Meyer in den Sommersemestern Zeichenunterricht an der Städtischen Kunstschule Augsburg. Nach kriegsbedingter Unterbrechung wurde die Kunstschule 1946 wieder eröffnet und stand bis zu Meyers Tod 1960 unter seiner Leitung.

Eugen Nerdinger (1910–1991): Grafik-Designer, Fachschriftsteller und Holzschneider. Nerdinger gehörte 1933 bis 1942 der sozialdemokratischen Widerstandsorganisation »Revolutionäre Sozialisten« an und war mit Bebo Wager befreundet, der die Augsburger Gruppe anführte. Von seiner ebenfalls leitenden Tätigkeit in dieser Gruppe trat Nerdinger im Frühjahr 1937 in die »Reserve« zurück, um an der Städtischen Kunstschule Augsburg Werbung und Gebrauchsgrafik zu studieren. Im Wintersemester 1939 wechselte er an die Akademie für Angewandte Kunst in München. Von den Nationalsozialisten wurde Nerdinger 1942 verhaftet und 1944 verurteilt, jedoch nicht (wie Wager) hingerichtet. 1946 war Nerdinger Mitbegründer der neueröffneten Augsburger Kunstschule, deren Leitung er 1960 (nach dem Tod Georg Meyers) übernahm. Ab 1961 führte die Schule den Namen »Werkkunstschule der Stadt Augsburg, Höhere Fachschule für angewandte Grafik und Malerei«, 1971 wurde sie in den Fachhochschulbereich eingegliedert. Bis zu seiner Pensionierung 1973 lehrte Nerdinger noch an der Fachhochschule Augsburg.

Joseph »Bebo« Wager (1905–1943): Elektromaschinenbauer und Sozialdemokrat. 1933 war Wager Mitbegründer der süddeutschen und österreichischen Widerstandsorganisation »Revolutionäre Sozialisten«. Wager übernahm die Leitung der Augsburger Gruppe. Er stand im Austausch mit Waldemar von Knoeringen, der sich seit 1933 im Ausland aufhielt und in der Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« aktiv war. 1942 flogen die »Revolutionären Sozialisten« auf, 1943 wurde Wager in München hingerichtet.

Marianne Weil (1922–1943): Augsburger Jüdin, eine der beiden Schwestern des Briefempfängers Arie Weil. Marianne Weil besuchte die Maria-Theresia-Schule und anschließend (1938–1940) die Städtische Kunstschule Augsburg (Klasse für Grafik). Siehe ihren Lebensabriss im Bereich »Biografien«.

Städtische Kunstschule Augsburg: Diese vormals selbstständige Schule war 1921 verwaltungstechnisch den »Gewerblichen Fachschulen der Stadt Augsburg« eingegliedert worden. Sie war in der Volksschule an der Hallstraße (»Hallschule«, damals »Hans-Schemm-Schule« genannt) untergebracht. Lisa Beck und Eugen Nerdinger schreiben in ihrer Monografie Dreihundert Jahre Schule für Gestaltung in Augsburg (1987) über die Zielsetzung der Kunstschule Mitte der 1920er-jahre: »Die Tagesklassen für Grafik und kunstgewerbliche Frauenarbeit sollten in den genannten und diesen verwandten Berufen eine gediegene Ausbildung vermitteln, die den Übertritt in die Praxis in Gewerbe und Industrie oder zur selbständigen Berufsausübung erleichtern würde. Damit war deutlich das Ausbildungsziel für angewandte künstlerische Berufe, ohne diese an der Akademie München abzuschließen, angesprochen. … In der ›Klasse für Graphik‹ gliederte sich der Unterricht in freies Zeichnen nach der Natur, angewandtes Zeichnen für Reklame, Packungen, Bucheinband und Buchschmuck, eingehende Pflege der Schrift und Übungen in den wichtigsten Vervielfältigungsverfahren wie Holz- und Linolschnitt, Steindruck, Radierung u.a. Die Klasse bot außerdem Gelegenheit zur Weiterbildung im Zeichnen; ihr Besuch galt auch besonders zur Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung an Kunstgewerbeschulen und Akademien. … Von einer objektiven, gründlichen kunsttheoretischen Information oder gar Erforschung der gestalterischen Grundlagen war bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts keine Rede. Die technische und auch die künstlerische Unterweisung geschah mit undefinierten mehrdeutbaren Begriffen; sie appellierte – wie die damalige Ausbildung von Handwerkern – an Geschicklichkeit und Empfindung und gründete auf der Methode von Vormachen, Nachmachen, Kritik, Verbessern, Wiederholen und Üben. … In den dreißiger Jahren hatte sich die Zahl der Studierenden gegenüber den zwanziger Jahren erhöht. Vierzig bis fünfzig Studierende besuchten die Tagesklassen. Für die Aufnahme in die Kunstschule wurde keine bestimmte Vorbildung vorausgesetzt. Entscheidend war die künstlerische Begabung. Erwünscht war jedoch Mittlere Reife oder eine abgeschlossene Lehre. Das Alter der Studierenden war daher unterschiedlich; es reichte von sehr jungen Schulabgängern über Besucher mit abgeschlossener einschlägiger handwerklicher Ausbildung bis zu bereits berufstätigen Besuchern, die teilweise die Tages-, vor allem aber ergänzend dazu die Abendkurse für ihre berufliche Weiterbildung belegten.«

Kunstzeitschrift: Diese Zeitschrift konnte bisher nicht identifiziert werden.

Theresienstadt: Marianne Weil, ihre Mutter Amalie und ihre Schwester Gertrud wurden am 9. März 1943 von Augsburg nach Auschwitz deportiert und sind dort umgekommen. Es gab von Augsburg aus über München Deportationen nach Theresienstadt und auch solche nach Auschwitz. Von Theresienstadt aus wurden ebenfalls viele Juden – teils fast ohne Zwischenaufenthalt, teils aber auch nach längerer Zeit bis zu mehreren Jahren – nach Auschwitz verschleppt. Es ist dokumentarisch belegt, daß Marianne nicht in Theresienstadt, sondern in Auschwitz starb; und nach Auskunft von Arie Weil ist es überhaupt ein Irrtum, wenn Eugen Nerdinger von einer Deportation Mariannes nach Theresienstadt spricht.

Äußeres Pfaffengässchen: Dokumentarisch belegt ist, dass die Familie Weil vor ihrer Deportation nach Auschwitz in einem anderen »Judenhaus« in Augsburg, nämlich in der Hallstraße 14, einquartiert war. Über eine evtl. vorausgehende Zwangsunterbringung im Äußeren Pfaffengässchen ist derzeit nichts bekannt.

Die hauptsächlichen Quellen für diese Erläuterungen sind:
Marion Detjen, »Zum Staatsfeind ernannt«. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-Regime in München, München 1998.
Hartmut Mehringer, Waldemar von Knoeringen. Eine politische Biographie. Der Weg vom revolutionären Sozialismus zur sozialen Demokratie, München – London – New York – Paris 1989.
Eugen Nerdinger, Brüder, zum Licht empor. Ein Beitrag zur Geschichte der Augsburger Arbeiterbewegung, Augsburg 1984.
Eugen Nerdinger, Lisa Beck, Dreihundert Jahre Schule für Gestaltung in Augsburg. Von der Reichsstädtischen Kunstakademie zum Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Augsburg, Augsburg 1987.

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