Zu einigen der erwähnten Personen und zu den mit * markierten
Einrichtungen gibt es unten Erläuterungen.
»Sehr geehrter Herr Weil!
In der Tat: Ihr Schreiben vom 20.12.85 hat mich aufs höchste
überrascht; ich wusste nicht, dass Marianne einen Bruder hatte
– wusste auch nicht, dass Sie im August in Augsburg waren. (Um
diese Zeit lag ich in einem Krankenhaus in Italien!) Gerne hätte
ich mit Ihnen über die mir bekannten Details jener unseligen
Jahre gesprochen, als ich mit Ihrer Schwester an der Kunstschule
der Stadt Augsburg* unter dem Studienprofessor Fritz Döllgast
und dem Studienrat Georg Meyer Grafik studierte. Außer der umseitig
geschilderten Notiz kann ich wenig an konkreten Fakten mitteilen.
Nur einmal begegnete mir der Name Marianne Weil – kurz nach
dem 2. Weltkrieg in einer Zeitschrift – ich glaube es war eine
von den Amerikanern zensierte Kunstschrift* – in der ein mehrfarbiges
ganzseitiges Blumenblatt abgebildet war, das ich auf den ersten
Blick als eine Arbeit Mariannes erkannte. In der darunterstehenden
Legende wurde mitgeteilt, dass die namentlich genannte Verfasserin
die Arbeit im KZ Theresienstadt* angefertigt und dort
gestorben sei. Auf dieser Mitteilung gründet auch mein Bericht
an die sozialdemokratische Widerstandsorganisation ›Neu Beginnen‹,
die unter Waldemar von Knoeringen in Neuern, CSR, ins Reich
wirkte. Die Nachricht ging über Bebo Wager, Leiter der ›Revolutionären
Sozialisten Augsburg‹ an ihn; Wager wurde im April 1942 verhaftet,
im Mai 1943 in Innsbruck vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt
und am 12. August 1943 in München-Stadelheim hingerichtet. –
Ich erinnere mich an Marianne sehr gut, weil sie in der Schule
eine Reihe hinter mir saß, sie mir vertraute – auch darum, weil
ich unter meinen Freunden eine Reihe von Juden aus der Jugendbewegung
hatte – darunter der spätere Verleger und Buchhändler Hein Kohn,
sein Cousin Walther Kohn, der heute in Kalifornien lebt und
den Fabrikantensohn Fritz Raff, der vor 5 Jahren in Amerika
starb.
Marianne ist fest in meiner Erinnerung und ich kann sie auch
ohne Foto – von denen es übrigens noch einige geben muss und
nach denen ich fahnden werde, schildern. Sie wurden auf Studienfahrten
gemacht; eines davon – ein Gruppenfoto bei einem Besuch in der
Pinakothek in München wurde bei einer Döllgast-Gedächtnisausstellung
gezeigt und stammt von einem Mitschüler, dem bekannten Ballonfahrer
Alfred Eckert. Vielleicht kann man einen Abzug – so ein Negativ
noch besteht oder eine Reproduktion machen. Ich werde mich bemühen.
Marianne ist mir als mittelgroßes, schlankes Mädchen in Erinnerung,
schwarzes Haar, gescheitelt und in zwei kräftigen Zöpfen den
Rücken hinabhängend. Sie war sehr intelligent, in der malerischen
und zeichnerischen Darstellung sehr begabt und gewissenhaft.
Ein bisschen spröde und auf Distanz bedacht – angesichts einer
begeisterten Hitlerjugendschar von Mitschülern nicht verwunderlich.
Dennoch war sie mutig und stolz und ihre Vorbildung in – war
es ›Stetten‹ oder ›Maria-Theresiaschule‹ – gab ihr im sprachlichen
und darstellerischen Ausdruck einen deutlichen Vorsprung. Bei
dem umseitig geschilderten Treffen hielt sie nur mühsam ihre
Angst und die Tränen zurück. Dennoch glaube ich, dass weder
sie noch ich der vollen Tragweite der auf uns zukommenden Gewalttaten
voll bewusst waren – trotz Kristallnacht und zunehmender Feindseligkeit
gegen die Juden. – Nach dem Krieg sagten meine Freunde und ich,
dass tausend Jahre vergehen werden, ehe das Grauen, das Hitler
über die Menschheit brachte – gesühnt sein werde.
Lieber, lieber Herr Weil, haben wir uns darin getäuscht; es
bleibt uns nur eine traurigmachende Scham.
Herzlichst Ihr Eugen und Gertrud Nerdinger 17 – 1 – 1986«
Die gedruckte Notiz, auf die Nerdinger verweist und die er dem
Brief beilegte, ist durch die Bezeichnung »Meldung Nerdingers
im Frühjahr« eingeleitet. Der Text lautet:
»Auseinandersetzung in der Klasse Prof. Fritz Döllgast um eine
Jüdin – Marianne Weil. Ihr war von einem mitstudierenden Volksschullehrer
vorgeworfen worden, in einer gegebenen Klassenaufgabe ›Leuchte‹,
einen siebenarmigen Leuchter als Aufgabenlösung abgeliefert
zu haben, was er und schließlich die ganze Klasse als einen
Affront gegen die nationalsozialistischen Überzeugungen der
Schülerschaft bezeichnete. Kurz darauf wurde Marianne Weil von
der Schule entfernt, mit ihren Eltern aus ihrer Wohnung vertrieben
und zusammen mit sechs jüdischen Familien auf einem Dachboden
in einem Hause im Äußeren Pfaffengässchen* bis zu ihrer ›Weiterverfrachtung‹
nach dem KZ Theresienstadt, untergebracht. Nerdinger sah sie
noch kurz vorher und sprach mit ihr, die zwar tapfer, aber mit
Bitternis von ihrem angeblichen Untermenschentum sprach und
wie sie sich, die sich als Deutsche empfand, von ihrer Umgebung
gedemütigt, verachtet und misshandelt fühlte. Marianne starb
in Theresienstadt.«
Es handelt sich hierbei um einen Ausschnitt aus Nerdingers Buch
Brüder, zum Licht empor (1984). Dieses Buch ist als ein
»Beitrag zur Geschichte der Augsburger Arbeiterbewegung« verfasst;
Nerdinger gibt darin nicht zuletzt Rechenschaft über seine Mitarbeit
in der sozialdemokratischen Widerstandsgruppe »Revolutionäre
Sozialisten« in Augsburg während der Jahre 1933–1942. Die »Meldung«
erscheint unter dem Berichtsjahr 1939. Das passt nicht völlig
zu ihrem Inhalt, weil Nerdinger 1939 noch nichts von einer drohenden
Deportation Marianne Weils nach Theresienstadt wissen konnte;
solche Deportationen setzten erst 1942 ein. Es ist also damit
zu rechnen, dass Nerdinger seine »Meldung« von 1939 aufgrund
späterer Informationen für den Druck des Buches ergänzt hat.
Erläuterungen
Friedrich (»Fritz«) Döllgast (1889–1962): Zeichner
und Maler, ab 1925 Leiter der Grafikklasse in der Städtischen
Kunstschule Augsburg, ab 1932 Leiter der Schule, bis diese 1944
kriegsbedingt geschlossen werden musste. Lisa Beck und Eugen
Nerdinger schreiben in ihrer Monografie Dreihundert Jahre
Schule für Gestaltung in Augsburg (1987): »Eine ganze Generation
vor und nach dem zweiten Weltkrieg tätiger Augsburger und schwäbischer
Grafiker und Künstler verehrten den hervorragenden Zeichner,
Aquarellisten und Holzschneider als ihren Lehrer, der ihnen
das künstlerische und handwerkliche Rüstzeug für ihren Beruf
vermittelt hatte.«
Alfred Eckert (geb. 1916): Ballonflieger, Schriftsteller
und Reprotechniker. Eckert gehörte der Widerstandsorganisation
»Revolutionäre Sozialisten« an, die in Augsburg von Bebo Wager
angeführt wurde und in der auch Eugen Nerdinger tätig war. Als
die Gruppe 1942 aufflog, war Eckert Frontsoldat; er wurde vernommen,
jedoch nicht der Gestapo ausgeliefert. Zwischen 1961 und 1966
unterrichtete Eckert mehrmals Reprotechnik an der Augsburger
Werkkunstschule. Seine Sammlung von Aeronautica ist der Grundstock
des Ballon-Museums Gersthofen (bei Augsburg).
Waldemar von Knoeringen (1906–1971): Münchner
Sozialdemokrat. 1933 emigrierte Knoeringen nach Österreich und
betätigte sich zunächst in der SPD und der Sopade (beides damals
illegale sozialdemokratische Organisationen), dann von Böhmen
aus in der Widerstandsgruppe »Neu Beginnen«, die mit süddeutschen
und österreichischen Gruppen kooperierte, u.a. mit der Augsburger
Abteilung der »Revolutionären Sozialisten«. Knoeringen galt
bald in beiden Gruppen als maßgeblicher Kopf. Während des Krieges
arbeitete Knoeringen bei der BBC in London. Ab 1946 spielte
er eine führende Rolle in der bayerischen SPD, u.a. als Landesvorsitzender
und als Fraktionsvorsitzender im Bayerischen Landtag.
Hein Kohn (1907–1979): Verleger und Literaturagent.
Kohn legte während seines Exils in den Niederlanden 1933–1952
eine große Sammlung von Exil-Literatur an (heute in der Universitäts-
und Landesbibliothek Bonn). Während seiner letzten Lebensjahre
war er Mitherausgeber der »Bibliothek der verbrannten Bücher«
im Konkret Literatur-Verlag.
Georg Meyer (1898–1960): Zeichner und Maler.
Von 1935 bis 1944 gab Meyer in den Sommersemestern Zeichenunterricht
an der Städtischen Kunstschule Augsburg. Nach kriegsbedingter
Unterbrechung wurde die Kunstschule 1946 wieder eröffnet und
stand bis zu Meyers Tod 1960 unter seiner Leitung.
Eugen Nerdinger (1910–1991): Grafik-Designer,
Fachschriftsteller und Holzschneider. Nerdinger gehörte 1933
bis 1942 der sozialdemokratischen Widerstandsorganisation »Revolutionäre
Sozialisten« an und war mit Bebo Wager befreundet, der die Augsburger
Gruppe anführte. Von seiner ebenfalls leitenden Tätigkeit in
dieser Gruppe trat Nerdinger im Frühjahr 1937 in die »Reserve«
zurück, um an der Städtischen Kunstschule Augsburg Werbung und
Gebrauchsgrafik zu studieren. Im Wintersemester 1939 wechselte
er an die Akademie für Angewandte Kunst in München. Von den
Nationalsozialisten wurde Nerdinger 1942 verhaftet und 1944
verurteilt, jedoch nicht (wie Wager) hingerichtet. 1946 war
Nerdinger Mitbegründer der neueröffneten Augsburger Kunstschule,
deren Leitung er 1960 (nach dem Tod Georg Meyers) übernahm.
Ab 1961 führte die Schule den Namen »Werkkunstschule der Stadt
Augsburg, Höhere Fachschule für angewandte Grafik und Malerei«,
1971 wurde sie in den Fachhochschulbereich eingegliedert. Bis
zu seiner Pensionierung 1973 lehrte Nerdinger noch an der Fachhochschule
Augsburg.
Joseph »Bebo« Wager (1905–1943): Elektromaschinenbauer
und Sozialdemokrat. 1933 war Wager Mitbegründer der süddeutschen
und österreichischen Widerstandsorganisation »Revolutionäre
Sozialisten«. Wager übernahm die Leitung der Augsburger Gruppe.
Er stand im Austausch mit Waldemar von Knoeringen, der sich
seit 1933 im Ausland aufhielt und in der Widerstandsgruppe »Neu
Beginnen« aktiv war. 1942 flogen die »Revolutionären Sozialisten«
auf, 1943 wurde Wager in München hingerichtet.
Marianne Weil (1922–1943): Augsburger Jüdin,
eine der beiden Schwestern des Briefempfängers Arie Weil. Marianne
Weil besuchte die Maria-Theresia-Schule und anschließend (1938–1940)
die Städtische Kunstschule Augsburg (Klasse für Grafik). Siehe
ihren Lebensabriss im Bereich »Biografien«.
Städtische Kunstschule Augsburg: Diese vormals
selbstständige Schule war 1921 verwaltungstechnisch den »Gewerblichen
Fachschulen der Stadt Augsburg« eingegliedert worden. Sie war
in der Volksschule an der Hallstraße (»Hallschule«, damals »Hans-Schemm-Schule«
genannt) untergebracht. Lisa Beck und Eugen Nerdinger schreiben
in ihrer Monografie Dreihundert Jahre Schule für Gestaltung
in Augsburg (1987) über die Zielsetzung der Kunstschule
Mitte der 1920er-jahre: »Die Tagesklassen für Grafik und kunstgewerbliche
Frauenarbeit sollten in den genannten und diesen verwandten
Berufen eine gediegene Ausbildung vermitteln, die den Übertritt
in die Praxis in Gewerbe und Industrie oder zur selbständigen
Berufsausübung erleichtern würde. Damit war deutlich das Ausbildungsziel
für angewandte künstlerische Berufe, ohne diese an der Akademie
München abzuschließen, angesprochen. … In der ›Klasse für Graphik‹
gliederte sich der Unterricht in freies Zeichnen nach der Natur,
angewandtes Zeichnen für Reklame, Packungen, Bucheinband und
Buchschmuck, eingehende Pflege der Schrift und Übungen in den
wichtigsten Vervielfältigungsverfahren wie Holz- und Linolschnitt,
Steindruck, Radierung u.a. Die Klasse bot außerdem Gelegenheit
zur Weiterbildung im Zeichnen; ihr Besuch galt auch besonders
zur Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung an Kunstgewerbeschulen
und Akademien. … Von einer objektiven, gründlichen kunsttheoretischen
Information oder gar Erforschung der gestalterischen Grundlagen
war bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts keine Rede.
Die technische und auch die künstlerische Unterweisung geschah
mit undefinierten mehrdeutbaren Begriffen; sie appellierte –
wie die damalige Ausbildung von Handwerkern – an Geschicklichkeit
und Empfindung und gründete auf der Methode von Vormachen, Nachmachen,
Kritik, Verbessern, Wiederholen und Üben. … In den dreißiger
Jahren hatte sich die Zahl der Studierenden gegenüber den zwanziger
Jahren erhöht. Vierzig bis fünfzig Studierende besuchten die
Tagesklassen. Für die Aufnahme in die Kunstschule wurde keine
bestimmte Vorbildung vorausgesetzt. Entscheidend war die künstlerische
Begabung. Erwünscht war jedoch Mittlere Reife oder eine abgeschlossene
Lehre. Das Alter der Studierenden war daher unterschiedlich;
es reichte von sehr jungen Schulabgängern über Besucher mit
abgeschlossener einschlägiger handwerklicher Ausbildung bis
zu bereits berufstätigen Besuchern, die teilweise die Tages-,
vor allem aber ergänzend dazu die Abendkurse für ihre berufliche
Weiterbildung belegten.«
Kunstzeitschrift: Diese Zeitschrift konnte
bisher nicht identifiziert werden.
Theresienstadt: Marianne Weil, ihre Mutter
Amalie und ihre Schwester Gertrud wurden am 9. März 1943 von
Augsburg nach Auschwitz deportiert und sind dort umgekommen.
Es gab von Augsburg aus über München Deportationen nach Theresienstadt
und auch solche nach Auschwitz. Von Theresienstadt aus wurden
ebenfalls viele Juden – teils fast ohne Zwischenaufenthalt,
teils aber auch nach längerer Zeit bis zu mehreren Jahren –
nach Auschwitz verschleppt. Es ist dokumentarisch belegt, daß
Marianne nicht in Theresienstadt, sondern in Auschwitz starb;
und nach Auskunft von Arie Weil ist es überhaupt ein Irrtum,
wenn Eugen Nerdinger von einer Deportation Mariannes nach Theresienstadt
spricht.
Äußeres Pfaffengässchen: Dokumentarisch belegt
ist, dass die Familie Weil vor ihrer Deportation nach Auschwitz
in einem anderen »Judenhaus« in Augsburg, nämlich in der Hallstraße
14, einquartiert war. Über eine evtl. vorausgehende Zwangsunterbringung
im Äußeren Pfaffengässchen ist derzeit nichts bekannt.
Die hauptsächlichen Quellen für diese Erläuterungen sind:
Marion Detjen, »Zum Staatsfeind ernannt«. Widerstand, Resistenz
und Verweigerung gegen das NS-Regime in München, München
1998.
Hartmut Mehringer, Waldemar von Knoeringen. Eine politische
Biographie. Der Weg vom revolutionären Sozialismus zur sozialen
Demokratie, München – London – New York – Paris 1989.
Eugen Nerdinger, Brüder, zum Licht empor. Ein Beitrag zur
Geschichte der Augsburger Arbeiterbewegung, Augsburg 1984.
Eugen Nerdinger, Lisa Beck, Dreihundert Jahre Schule für
Gestaltung in Augsburg. Von der Reichsstädtischen Kunstakademie
zum Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Augsburg,
Augsburg 1987.
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