Briefe und Erinnerungen   Brief von Selma Cohen, einer ehemaligen MT-Schülerin, geschrieben in Schweden 1945, nach ihrer Befreiung aus dem Lager Kiel-Hassee

Im folgenden Brief schildert Selma Cohen (geb. 1903), was sie im »Ghetto« und in den Lagern von Riga sowie im Lager Kiel-Hassee durchmachen musste. Der Brieftext, der uns in einer Abschrift (Datei) vorliegt, wurde redaktionell durch Absätze gegliedert, gelegentlich grammatikalisch retuschiert und moderner Schreibweise angenähert. Eine den Sinn betreffende Änderung, wo in der Vorlage »Oma« statt richtig »Mutter« steht, wurde in eckige Klammern gesetzt. Zu den mit * gekennzeichneten Orten und Personen finden sich unten Erläuterungen.

»Holsbybrunn, den 11. August 1945

Liebe Ruth und Erna,*

schon lange bemühe ich mich Eure Adresse zu erfahren, leider haben meine Brüder in Sao Paulo bis dato außer meinem Telegramm noch keine einzige Zeile von mir erhalten, obwohl eine ganze Anzahl Briefe von mir unterwegs ist, so dass ich auf meine wiederholte Frage auch keine Antwort haben kann. Der Kontakt mit Südamerika funktioniert furchtbar schlecht, während der mit U.S.A. geradezu floriert. Diese Woche erhielt ich den ersten Brief aus Sao und stehen auch von dort noch die meisten – vorher abgesandten aus. Nun kam gestern meine Kollegin Margot Stoppelmann* von einer längeren Reise zurück und überreichte mir Deine Zeilen lb. Ruth, die ich natürlich gleich beantworten will.

Leider kann ich Euch nur sehr Trauriges berichten, aber so schwer mir dies fällt, hat es ja keinen Zweck mit der Wahrheit zu jonglieren. Sowohl Eure lb. [Mutter],* als auch Eure Oma* sind am 3.4.1942 mit einem Transport, der angeblich nach Dünamünde* in eine Konservenfabrik verlegt werden sollte – im Jenseits gelandet. Ich kann mir Euren Schmerz über diese bittere Mitteilung gut ausmalen, aber glaubt mir – es ist diesen beiden viel erspart geblieben. Es sind damals ca. 2000 Menschen diesen Weg gegangen und wenn Ihr bedenkt, dass von ca. 13000 deutschen Juden, die im Ghetto in Riga lebten – mit ganz wenigen Ausnahmen – nur wir 169 Menschen noch da sind, dann brauche ich Euch wohl nicht zu erzählen, was in diesen 3½ Jahren gespielt wurde.

Dass ich selbst noch am Leben bin, ist geradezu ein Wunder, denn ich habe gesundheitlich so viel mitgemacht, dass ich längst mit einem Krankentransport hätte angeschoben werden können, wenn der lb. Gott es gewollt hätte. Zuerst hatte ich eine 1½ jährige Venenentzündung, bin aber trotzdem tagtäglich zur Arbeit gegangen, was ich heute insofern zu büßen habe, als sich im rechten Bein Wasser gebildet hat, was durch keinerlei Behandlung mehr behoben werden kann. Dann ist mir genau vor einem Jahr die linke Brust abgenommen worden und zwar unter den schwierigsten Umständen, denn ein paar Tage zuvor hatte die SS unserem sogenannten Lazarett sämtliche Instrumente etc. beschlagnahmt, damit eben die Kranken dem K.Z. Kaiserwald* übergeben werden müssen, was so viel heißt, als wie – den Weg allen Fleisches gehen. Trotzdem wurde die Operation mit ganz gewöhnlichen Hilfsmitteln vorgenommen, allerdings von einem erstklassigen Spezialisten, der Einschnitt mit nicht sterilisiertem Garn vernäht und trotz der Schwere der Operation, war ich nach zwölf Tagen wieder an meinem Arbeitsplatz. – Ein andermal geriet ich unter ein zweispänniges Fuhrwerk, dem ein schwerer Lastkraftwagen folgte – den allerdings meine Kollegen geistesgegenwärtig sofort stoppten. Auch hierbei verließ mich mein Schutzengel nicht, mit Hautabschürfungen, Prellungen und einem vollständig zerschlagenen Mund kam ich nach acht Tagen wieder auf die Beine. Außer diesen beiden Malen habe ich niemals eine Stunde bei der Arbeit gefehlt und das war das ausschlaggebendste. Arbeitsunfähige Menschen werden ausgemerzt ohne Rücksicht auf Alter etc. – Übrigens war auch eine Tante von Euch – die Schwägerin Euerer lb. Mutter im Ghetto, eine Frau Stern* aus Oberasphe mit Sohn und Tochter. Dieselben wurden bei Auflösung des Ghettos einer anderen Kasernierung zugeteilt, was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht.

Und nun meine lb. Ruth und Erna, tröstet Euch in dem Bewusstsein, dass den lieben Verstorbenen viel erspart geblieben ist, sie hätten beide die Strapazen, denen wir ausgesetzt waren, niemals durchgehalten. Nachdem wir im Jahr ’45 wieder nach Deutschland zurückexportiert wurden, waren wir sechs Wochen wieder Insassen des Hamburger Gefängnisses, von dort aus sind wir in vier Tagen zu Fuß nach Kiel* (85 km) in ein Arbeits- und Erziehungslager, und trotzdem wir in den 3½ Jahren alles ausgekostet hatten, was ein Mensch ertragen kann – die drei Wochen in Kiel haben das Maß zum Überlaufen gebracht. Wir hätten es alle keine acht Tage mehr ausgehalten, täglich zwei Scheibchen Brot und nur in Wasser (ohne Salz) abgekochte Steckrüben. Dabei unglaublich schwere Arbeit, jeden Tag ein Weg von vier Stunden zur Arbeitsstelle. Da wurden wir plötzlich vom Schwedischen Roten Kreuz befreit und leben heute wieder als freie Menschen – was das heißt, kann nur der ermessen, der diesen Leidensweg persönlich gegangen ist.

In diesem Sinne gönnt Euerer lb. Mutter und Großmutter die ewige Ruhe – betrauert, aber bedauert sie nicht. Nehmt meinerseits zu dem herben Verlust meine innigste Anteilnahme und schreibt bitte recht bald wieder.

Eure Selma Cohen«

Ruth und Erna: Die Adressatinnen sind ein Schwesternpaar aus Rhede (Westfalen). Erna Meyer, geb. 1915, lebt heute in den USA; wir danken ihr für die Erlaubnis, den Text zu publizieren. Zusammen mit ihrer Schwester Ruth (geb. 1917) wanderte sie 1939 über Amsterdam nach London und später in die USA aus.

Margot Stoppelmann: Frau Stoppelmann (geb. 1919) war im Dezember 1941 aus Hannover nach Riga deportiert worden. Nach dem Krieg heiratete sie und hieß dann Margot Felsen.

Mutter: Die Mutter von Erna und Ruth hieß Berta Landau, geb. Stern (geb. 1887). Sie war in Oberasphe (Hessen) geboren und lebte in Rhede (Westfalen); von dort wurde sie als Witwe im Dezember 1941 nach Riga deportiert.

Oma: Gemeint ist Ella Landau, geb. Romberg (geb. 1883). Sie war in Diepholz geboren; zuletzt wohnte sie mit Selma Cohen im selben Haus (Borken, Butenstadt 4). Auch sie wurde im Dezember 1941 nach Riga deportiert.

Dünamünde: Hafenort nahe bei Riga, heute Jūrmala. Viele deportierte Juden wurden unter dem Vorwand, sie könnten in einer Fabrik in Dünamünde arbeiten, mit Lastwagen aus dem »Ghetto« hinausgebracht und ermordet.

Kaiserwald: Stadtbezirk von Riga. Hier wurde, als das »Ghetto« nicht mehr alle nach Riga deportierten Juden aufnehmen konnte, ein Konzentrationslager eingerichtet.

Frau Stern: Martha Stern, geb. Bär (geb. 1894), mit Sohn Fritz (geb. 1924) und Tochter Meta (geb. 1926). Alle drei waren im Dezember 1941 mit einem Transportzug, der in Kassel losfuhr, nach Riga deportiert worden.

Kiel: »Als im August 1944 die Rückführung der jüdischen Häftlinge aus dem baltischen Raum einsetzte, sollte noch eine Leidenszeit von neun Monaten, mit großen Opfern an Gesundheit und Leben, vor ihnen liegen … Im Lager Mühlgraben in Riga waren rund 200 Häftlinge zu Aufräumungsarbeiten zurückbehalten worden, die im Oktober nach Libau gelangten und dort weiter im Hafen arbeiten mussten. … Am 17. Februar 1945 gingen die letzten Häftlinge an Bord eines kleinen Dampfers namens ›Balkan‹. Statt nach Stutthoff wurde das Schiff nach Hamburg geleitet« (W. Scheffler). Den Fußmarsch nach Kiel legten die bis dahin in Hamburg verbliebenen Häftlinge vom 11. bis zum 15. April zurück. Das Lager Kiel-Hassee wurde am 3. Mai 1945 befreit.

Quellen: Gisela Möllenhoff, Rita Schlautmann-Overmeyer, »Die Deportation aus Münster – Osnabrück – Bielefeld, 13. Dezember 1941. Münster«, in: »Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.« und »Riga-Komitee der deutschen Städte« gemeinsam mit der Stiftung »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum« und der Gedenkstätte »Haus der Wannsee-Konferenz« (Hrsg.), Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003, Bd. 2, S. 723–726.

Wolfgang Scheffler, »Das Schicksal der in die baltischen Staaten deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden 1941–1945. Ein historischer Überblick«, ebd., Bd. 1, S. 1–43; Zitat: S. 40f.

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