Briefe und Erinnerungen   Jean Mar über Ernestine Obernbreits Hochzeit
Jean Mar (Ilse Marx) erinnert sich an die Hochzeit ihres Onkels Jacob Gruber mit Ernestine Obernbreit, Augsburg, im Juli 1919.

»Eine Hochzeit im Sommer

Der jüngste Sohn meiner Großeltern diente vier Jahre lang (1914–1918) in der deutschen Armee. Ein Jahr später war er verlobt. Zu jener Zeit wurde das Hochzeitsmahl im Haus des Bräutigams abgehalten, gewöhnlich im Wohn- und Esszimmer. Das Brautpaar, die Eltern und alle Geschwister fuhren in einem Pferdewagen, genannt ›Viktoria-Kutsche‹ (es war das bevorzugte Reisemittel der Königin Viktoria), in die Synagoge zur Hochzeits-Zeremonie, die an einem Sonntag stattfand. Danach kehrten die Gäste zum Haus meiner Großeltern zurück, um das Hochzeitsmahl einzunehmen.
Das Wohnzimmer war sehr groß, und um jedermann gut unterzubringen, wurden drei lange Tafeln aufgestellt und Stühle aus den nahegelegenen Restaurants ausgeliehen. Um Platz zu schaffen, verstaute man alle kleineren Tische und Möbelstücke in einem der Schlafzimmer. Meine Großmutter war eine sehr gute Köchin; sie war es, die die Mahlzeit herstellte: Suppe, gekochten Karpfen, Sauerbraten und viele Gemüse-Beilagen. Die Mutter der Braut steuerte die Desserts bei, wozu eine hübsche Auswahl von Keksen gehörte.
Selbstverständlich wurde alles im Voraus zubereitet. Weil meine Großmutter eine praktizierende Jüdin war und am Schabbat nicht kochen durfte, mußte sie alle Gerichte am vorangehenden Donnerstag und Freitag kochen. Es gab keine Kühltruhe, das Essen wurde im Keller aufbewahrt. Obwohl es Juli war und sehr heiß, wurde niemand vom Essen krank. Ich erinnere mich gut an das Ereignis: Ich war zwölf Jahre alt und es war die erste Hochzeit, die ich miterlebte. Vor allem das Essen bestimmt meine Erinnerung, und da ich jetzt daran denke, sollte ich vielleicht die obige Bemerkung, dass ›niemand‹ vom Essen krank geworden sei, berichtigen. Denn tatsächlich wurde die Braut krank! Zu jener Zeit, muss man wissen, lebte jedermann von rationierten Lebensmitteln, und die Braut, an so reichhaltiges Essen nicht gewöhnt, bekam Magenschmerzen. Laut ihrem Arzt hatte sie zuviel gegessen!
1942 starben Braut und Bräutigam in einem deutschen Konzentrationslager, ebenso wie ihr jüngerer Sohn. Der ältere Sohn konnte mit 16 Jahren in die USA kommen. 1941 trat er in die US-Army ein und diente bis 1945. Nach dem Austritt aus der Armee besuchte er ein College und wurde ein vielfach ausgezeichneter Wissenschaftler.«

(Jean Mar, »Summer Wedding«, Kittay News, August 2001. Übersetzung M. v. Perger.)

Jean Mars Großeltern mütterlicherseits, Mathilde und Abraham Gruber, lebten in Augsburg. Der jüngste Sohn des Ehepaars war Jacob Gruber. Er heiratete Ernestine Obernbreit. Jacob, Ernestine und ihr jüngerer Sohn, Kurt Gruber, kamen 1942 in Piaski (Polen) oder einem anderen, nahegelegenen Konzentrationslager ums Leben. Ihr älterer Sohn, Paul Gruber, starb 2003 in den USA.

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