Briefe und Erinnerungen   Erinnerungen von Jean Mar (Ilse Marx)
Aus: Kittay News 1/2002
Übersetzung aus dem Englischen: M. v. Perger
Sternchen (*) verweisen auf die Anmerkungen unter dem Text.


Jean Mar (Ilse Marx)

»Augenzeugin von Geschichte. Deutschland in zwei Weltkriegen

Ich wurde in Deutschland, im Dorf Buttenhausen, als ältestes von drei Mädchen geboren. Als meine jüngste Schwester geboren wurde, war ich drei Jahre und drei Monate alt. Ich erinnere mich deutlich daran, wie die Hebamme das Neugeborene hochhielt und fragte: ›Ilse, möchtest du deine neue Schwester sehen?‹ Ich blickte neugierig und glücklich auf meine neugeborene Schwester. Als ich in das benachbarte Zimmer sprang, sah ich zu meiner Überraschung, dass mein Vater eine bekümmerte Miene machte. Mit drei Jahren konnte ich nicht verstehen, warum, aber in späteren Jahren wurde es klar. Die Mutter meines Vaters war bei einer Geburt gestorben, als er ein Jahr alt war, und das Sprichwort ging: ›Wenn eine Mutter ein Kind zur Welt bringt, steht sie mit einem Fuß im Grab.‹ Er war in Sorge um meine Mutter gewesen. Würde sie heil davonkommen? Zum Glück tat sie es, und die bekümmerte Miene verschwand.
Vier Jahre später, im August 1914, beobachtete ich auf dem Marktplatz, wie der einzige Dorfpolizist eine Kuhglocke läutete und jedermann aufforderte, auf den Schulhof zu kommen, um den Bürgermeister sprechen zu hören. Der Krieg, der zum Ersten Weltkrieg werden sollte, hatte begonnen. Die Schlussworte des Bürgermeisters waren: ›All unsere Männer werden an Weihnachten zuhause sein, und wir werden siegreich sein.‹ Natürlich glaubten wir ihm. Später wurde dieser Glaube von den Zeitungen untermauert, die als einzige Informationsquelle dienten und nur berichteten, dass wir jede Schlacht gewannen. Einige Jahre später wurde ein französischer Kriegsgefangener zu uns ins Dorf geschickt, um den Bauern zu helfen. Alle waren erstaunt, ihn sagen zu hören, dass wir, Deutschland, dabei waren, den Krieg zu verlieren, und niemals die Wahrheit darüber erfahren würden, was wirklich geschah. Irgendwann freilich mussten wir die Wahrheit erfahren.
Kriege sind teuer. Die Regierung hatte alle aufgefordert, Kriegsanleihen zu zeichnen, und jedermann hatte seinem Vaterland vertraut. Nach 1918 entwickelten sich die Zeiten von schlechten zu noch schlechteren, und drei Jahre später erreichte die Inflation ihren Höhepunkt. Eine Million Mark waren einen Dollar wert. Ich schnappte auf, wie mein Großvater sagte: ›Mathilde, wir sind Millionäre.‹ Dann hörte ich meine Großmutter mit unterdrückter Stimme sagen: ›Lasst ihn für einen Tag glücklich sein.‹ Ironischerweise hatte der Kaiser unter all dem nicht zu leiden, denn er verließ Deutschland nach dem Krieg und verbrachte seine restlichen Tage in Den Haag.
Von dieser Zeit habe ich noch andere klare Erinnerungen. Nach Kriegsende rief ein Freund der Familie, ein Offizier, meinen Onkel an und bat ihn, ihm zivile Kleidung zu bringen. Der Offizier hatte buchstäblich Angst, in seiner Militäruniform nach Hause zu kommen. Die Stimmung gegen das Militär war stark und konnte in Gewalt ausbrechen, denn man gab ihm die Schuld dafür, dass der Krieg verloren war.
Viele Jahre später, als ich etwa 20 Jahre alt war, zog ich nach München und arbeitete in einem Einzelhandelsgeschäft, das Verwandten von mir gehörte.* Es lag nahe bei der ehemaligen Residenz des Königs, und den Hintereingang erreichte man vom ehemaligen Garten des Königs aus, genannt Hofgarten. Die Vorderseite ging zum Odeonsplatz hin. Der Laden wurde von vielen Unterhaltungskünstlern, Schriftstellern, Schauspielern usw. aufgesucht.
Eines Tages kam ein sehr großer, untersetzter Mann herein. Ich begrüßte ihn: ›Es ist uns eine Ehre, Sie begrüßen zu dürfen, Herr Dr. Eckener.‹ Ich erkannte in ihm den Mann, der den Zeppelin nach Amerika gebracht hatte.* Seine Antwort kam in abgehacktem Tonfall: ›Ich möchte nicht erkannt werden. Geben Sie mir nur, um was ich Sie bitte.‹ Von gegenteiligem Temperament, sehr freundlich und höflich, war Thomas Mann, der das Geschäft oft besuchte. Viele seiner Bücher standen im Regal meines Verwandten, z. B. Joseph und seine Brüder.
Besonders denkwürdig war die damals, 1930, 90-jährige Cosima Wagner.* Ich habe sie nie vergessen. Sie war eine aufrechte, große Dame mit weißem Haar, schönen Gesichtszügen und von außergewöhnlicher Persönlichkeit. Sie war die Tochter von Franz Liszt, verheiratet mit Hans von Bülow und später mit Richard Wagner.
Ein anderer Kunde des Münchner Geschäfts war ein Verfasser von Reden für von Hindenburg. 1933 hörte ich ihn eines Tages sagen: ›Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein und mitanzusehen, was in Berlin vorgeht.‹ Einige Tage später wurde er von einem Exekutionskommando erschossen.*
Ein anderer Kunde, ein normaler deutscher Bürger, hatte mit Juden zusammengelebt und einige ihrer Ausdrücke gelernt. Mit Blick auf die Reihen der SS-Männer vor dem Geschäft bemerkte er: ›G. N.‹ (Goyim Nachas).* Das war ein ironischer jüdischer Ausdruck, um die unterdrückenden, schwer lastenden Aktionen der SS zu benennen. Einige Tage später kam er selbst in SS-Uniform in den Laden und sagte: ›Man muß seinen Lebensunterhalt verdienen.‹
Ein Ereignis von Mitte der 1930er Jahre ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich ging für eine ganz gewöhnliche Besorgung zu einem nahegelegenen Postschalter. Als ich auf dem Rückweg einen großen Platz vor der Residenz überquerte, fand ich mich plötzlich ganz allein. Ich sah nach rechts – da stand, nur ein paar Schritte entfernt, Hermann Göring in voller Uniform. Es war kein Irrtum möglich, dass er es war: 1,93m und 350 Pfund Fleisch und Muskeln, und dieses ausdruckslose Gesicht. Ich hatte ihn auf Bildern oft gesehen. Ich zwang mich, nicht hinzuschauen und normal weiterzugehen, bis er nicht mehr in Sichtweite war. Mir war nicht klar, dass die Erinnerung an diese Begegnung unauslöschlich in mein Gedächtnis eingeprägt sein würde.
Als 1938 Chamberlain Hitler besuchte, sah ich sie zusammen auf dem Odeonsplatz, wo mein Verwandter sein Geschäft hatte.* Wegen ihrer Anwesenheit mussten alle Geschäfte alle Fenster schließen. Eine Reihe von SS-Männern stand mit dem Gesicht zum Gebäude und eine zweite Reihe mit dem Gesicht zu Hitler und Chamberlain. Ich nahm eine lange Leiter im Hintergrund des Schaufensters und kletterte auf die oberste Sprosse, um alles zu sehen.
Später in diesem Jahr – es war am 9. November 1938, heute bekannt als ›Kristallnacht‹. Einen Tag vorher wusste jeder, dass alle jüdischen Männer ins Konzentrationslager gebracht würden. Einige Leute, meine Tante, mein Onkel und ich, gingen in den Englischen Garten, um nicht gefunden zu werden. Da ich nicht als jüdisch bekannt war, ging ich am nächsten Morgen zum Odeonsplatz. Wie ich erwartet hatte, war das Geschäft geplündert, Fenster und Türen zerbrochen, Einrichtung und Waren niedergetrampelt. Alle Lichter waren an. Man erlaubte mir nicht, in den Laden zu gehen, um die Lichter zu löschen. Sie brannten bis zum nächsten Mai, und meine Verwandten mussten die Stromrechnung für die ganze Zeit bezahlen. Ein junger Mann von Auswärts wurde von der Gestapo als Aufpasser eingesetzt. Das ganze Geschäft wurde abgeriegelt und niemand durfte hinein. Der junge Mann fragt mich: ›Seid ihr versichert?‹ Zwei Tage später wurde mein Onkel aufgegriffen und in das Konzentrationslager Dachau geschickt. Nach zwei Wochen kamen zwei Polizisten zur Wohnung meiner Tante und erzählten ihr, dass ihr Mann gestorben war.
Mein eigener Vater wohnte noch im Dorf Buttenhausen, dem Dorf in Süddeutschland, wo ich geboren bin. SS-Männer kamen, um alle Juden mitzunehmen. Der junge Bürgermeister* trat dazwischen und sagte zur SS: ›Sie können die jungen Männer mitnehmen, aber alle, die über 60 Jahre alt sind, können Sie nur über meine Leiche mitnehmen; sie werden nicht aushalten, was Sie mit ihnen vorhaben.‹ Durch den Mut dieses Bürgermeisters wurde mein Vater gerettet.
Der nächste Schritt war, alle Papiere zusammenzubekommen und nach Amerika zu gehen. Dies dauerte bis Juli 1939. Meine Verwandten entkamen auf getrennten Wegen, ich ging zuerst nach England, wo ich als Gast aufgenommen wurde, bis zu meiner Abreise aus Southampton. Die Abreise fand nachts statt. Es gab nirgends Lichter außer den Scheinwerfern an Bord des Schiffs ›Washington‹, das am 31. August 1939 in New York landete. Die Freiheitsstatue zu sehen, war der aufregendste Augenblick in meinem Leben.

Januar 2002.«

Anmerkungen

Verwandte: Ludwig Gruber, ein Bruder von Ilses Mutter, und seine Frau Erna. Das Ehepaar führte ein Tabakwarengeschäft am Münchner Odeonsplatz. Ilses Bruder Werner beschreibt die Einrichtung so: »Es war ein exquisiter Laden mit den feinsten handgefertigten Wandregalen aus Mahagoni und Schaufenstern. Orientalische Teppiche bedeckten den Boden. In einer Ecke des Geschäfts standen mehrere Polstersessel, wo die bevorzugten Kunden mit frisch aufgebrühtem Kaffee bewirtet wurden« (Werner L. Marx, »Buttenhausen:« The History of a Former German-Jewish Community. Personal Recollections and Reflections, privat vervielfältigt, o. O. [Baltimore, Maryland] 1996, S. 80f.). Ludwig Gruber wurde im November 1938 in Dachau ermordet, Erna emigrierte 1939 nach England und nach dem Krieg in die USA.

Dr. Eckener: Hugo Eckener (1868–1954), einstmals Mitarbeiter Graf Zeppelins, lenkte 1924 ein »Reparationsluftschiff« vom Bodensee nach New York (3. Transatlantikflug eines Luftschiffs).

Cosima Wagner: Die Witwe Richard Wagners, geb. 1837, starb am 1. April 1930.

Verfasser von Reden für von Hindenburg: ungeklärt. Vielleicht ist Edgar Julius Jung gemeint (1894–1934), der Reden für Franz von Papen schrieb und Ende Juni 1934, nach dem Röhm-Putsch, im KZ Oranienburg ermordet wurde.

Goyim Nachas: dt. etwa »heidnische (nicht-jüdische) Vergnügungen«.

Chamberlain: Der britische Premierminister Neville Chamberlain traf am 29. September 1938 in München ein, um an einer Konferenz teilzunehmen; Ergebnis war das »Münchner Abkommen«.

Bürgermeister: Johannes (»Hans«) Hirrle (1897–1988), Bürgermeister von Buttenhausen 1933–1945. Obwohl Mitglied der NSDAP, versuchte er – z. T. erfolgreich –, einige der härtesten Ausschreitungen gegen Juden zu verhindern, und half vielen bei der Vorbereitung der Ausreise. Vgl. Werner L. Marx (Bruder von Ilse), »Buttenhausen« (wie oben), S. 32 u. 35. Ein Interview mit Hans Hirrle über die Buttenhäuser Juden und den Nationalsozialismus wurde vom Geschichte-Leistungskurs 1976/77 des Gymnasiums Münsingen unter der Leitung von Joachim Wilhelmy geführt, enthalten auf der Doppel-CD Interviews mit Zeitzeugen: Antisemitismus, Juden, Buttenhausen (privat hergestellt und vertrieben von J. Wilhelmy: http://www.coacoa.de/TheaterA.G/weitere_dvds.html
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