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Im Lauf ihrer
Arbeit erhielt unsere Projektgruppe viele Briefe von Zeitzeugen.
Außerdem wurden uns ältere Briefe und aufgezeichnete Erinnerungen
zugänglich gemacht, die bisher nicht veröffentlicht sind. Daraus
präsentieren wir hier eine Auswahl, zusammen mit kurzen Auszügen
aus bereits veröffentlichten Texten. |
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Eine Reihe von
Fragen des Arbeitskreises beantwortete Marianne Gollwitzer, geb.
Haindl, in einem Brief vom 24. Oktober 2004:
»Es ist richtig, dass
wir in unserer Klasse von 1930 bis 1936 keine jüdische Mitschülerin
hatten.
Marianne Weil kannten wir persönlich nicht. Von der Emigration
jüdischer Familien bekamen wir in unserer schulischen und privaten
Umgebung kaum etwas mit. Eine der wenigen Ausnahmen war das Ausscheiden
der Mitschülerinnen Landauer und Untermeier in Klassen über uns.
Wir haben keine negativen Erinnerungen an das Zusammenleben mit
jüdischen Mädchen am MTG und erlebten auch keine diskriminierenden
Äußerungen oder Ausgrenzungen innerhalb oder außerhalb der Schule.
Der Mathematiklehrer Siegfried Zöllner wurde wegen seiner fachlichen
und menschlichen Qualitäten sehr geschätzt. Wir mochten ihn und
fanden ihn sympathisch und witzig. Der Selbstmord seiner jüdischen
Frau machte uns betroffen; Details blieben uns aber unbekannt. Das
Klima am MTG auch nach 1933 empfanden wir als gut. Unsere beliebten
Lehrer Meyer (Latein) und Dr. Keßler (Deutsch) äußerten ihre kritische
und distanzierte Haltung zur NSDAP in all den Jahren zurückhaltend,
aber doch stets unmissverständlich ...«
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Brief von
Ursula Dorschky vom 15. März 2004 an die Projektgruppe:
»Auf Umwegen erhielt
ich den Ausschnitt der Augsburger Zeitung vom 10.3. ›Schüler auf
den Spuren jüdischer Mädchen‹. Dazu möchte ich folgendes mitteilen.
Vom April 1933 bis einschließlich Februar 1937 besuchte ich unter
meinem Geburtsnamen Bezzel die 1.–4. Klasse des Maria-Theresia-Gymnasiums
(zuletzt G 4). Dann verzogen wir wegen der Versetzung meines Vaters
nach Bayreuth. Während des oben genannten Zeitraums besuchten drei
Jüdinnen unsere Klasse, sehr nette und stets lustige Mädchen. Leider
sind mir nur noch zwei Namen in Erinnerung:
Ilse Cassel und
Liesel Heymann. Mit letzterer legte ich täglich den Großteil
meines Heimweges zurück. Alle drei Mädchen waren bis zu meinem Ausscheiden
noch in der Klasse ...«
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Aus dem Brief einer Zeitzeugin vom
7. Januar 2004 an die Projektgruppe:
»Bei meinen diversen Rückfragen
hieß es immer: ›Keine Ahnung, was aus denen geworden ist, sie waren
einfach nicht mehr da …‹« |
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Aus einem Brief von Marianne Cramer,
geb. Untermayer, von April 2004 an die Projektgruppe:
»Ich habe gute Erinnerungen
an eine sehr schöne
Schulzeit im MTG mit guten Freunden
und wunderbaren Lehrern.« |
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Aus einem Brief von Ernst Cramer, Sohn von
Klara Berberich, vom 11. Mai 1945,
zitiert von Ernst Jacob, Rundschreiben Nr. 10, August 1945 (in:
G. Römer, »An meine Gemeinde in der Zerstreuung«. Die Rundbriefe
des Augsburger Rabbiners Ernst Jacob 1941–1945, Augsburg 2007,
S. 101–115, hier S. 105–108):
»Viele ›arische‹ Deutsche
waren Zeugen der Deportationen. Es muss gesagt werden, dass viele
von ihnen unseren Freunden mit Nahrung, Wolldecken, Schuhen usw.
halfen. Insbesondere im März 1942 muss es Tumulte rund um die Häuser
mit jüdischen Bewohnern gegeben haben. Frauen weinten und schimpften,
Kirchenleute setzten sich dafür ein, die Unglücklichen dort zu lassen,
wohin sie rechtmäßig gehörten. Aber die Menge wurde auseinander
getrieben und die Lastwagen fuhren ab. Es fällt mir nicht leicht,
einen Bericht mit solchen Tatsachen zu schreiben, ebenso wie das
Sammeln dieser Fakten eine der schwersten Aufgaben war, die ich
jemals zu erfüllen hatte. Leute weinten, als sie mir diese Vorgänge
berichteten, und ausgerechnet ich musste sie trösten. Ich selbst
konnte nicht weinen, man kann um Freunde und Verwandte weinen, die
am Ende eines normalen Lebenswegs sterben, aber wenn die Gräuel,
unter denen die dir liebsten Menschen fortgehen mussten, so jenseits
aller menschlichen Vorstellungen sind, dann kann sich auch der menschliche
Schmerz nicht auf normale Weise äußern.« |
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Auszug aus
Anna Spiro, geb. Friedmann, Years to Remember, London 1988
(Privatdruck):
»Im Alter von zehn
Jahren verließ ich die Grundschule und wechselte ans Maria-Theresia-Gymnasium
… Ich genoss meine Anfangsjahre an dieser Schule und schloss viele
Freundschaften … Das Leben an der Schule war in den ersten Jahren
angenehm, aber es begann sich dann spürbar etwas zu ändern. Als
ich eines Tages in der Lateinstunde die Frage des Lehrers nicht
richtig beantworten konnte, ließ er folgende Bemerkung los: ›Ich
dachte immer, die Juden seien so klug, aber offensichtlich muss
ich meine Meinung ändern.‹ Das war typisch für diese Zeit und die
zunehmende Macht der Nazis, und solch beleidigende Unverschämtheit
musste ertragen werden. …
Im Januar 1933 wurde Hitler deutscher Kanzler ... An der Schule
waren damals 28 Mädchen in meiner Klasse, neun davon waren jüdisch.
Obwohl die meisten unserer Lehrer nach wie vor guten Unterricht
gaben und sich normal verhielten, gab es doch einen oder zwei, die
jegliche Gelegenheit nutzten, antisemitische Bemerkungen loszulassen
... Ich habe es dann ausgesprochen verabscheut, in die Schule gehen
zu müssen ... Leute, die man kannte und achtete, schauten plötzlich
weg, wenn man sie auf der Straße traf.«
(Übersetzung: G. Hornung)
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Auszug aus
Elisabeth Dann, »Ein schweres, aber schönes Leben«, in: Gernot Römer,
Hrsg., Vier Schwestern.
Die Lebenserinnerungen von Elisabeth, Lotte, Sophie und Gertrud
Dann aus Augsburg, Augsburg 1998, S. 67–104, hier S. 77f.:
»Unsere Klasse war die zweite oder dritte, die dort [an der Maria-Theresia-Schule]
das Abitur machte. Wir waren zwischen 13 und 17 Schülerinnen, alle
nett und begabt. Wir hielten Freundschaft weit über die Schulzeit
hinaus; mit den wenigen, die noch leben, sogar bis auf den heutigen
Tag.« |
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Aus Briefen
von Annelore Haines, geb. Baumgärtner:
Annelore Haines, geb. Baumgärtner, ist 1938 an die Maria-Theresia-Schule
gekommen, in dieselbe Klasse wie
Erika Charon. Nach dem Krieg hat sie in Augsburg einen Amerikaner
kennengelernt, ist ihm 1947 in die USA gefolgt und hat ihn dort
geheiratet. Das Ehepaar bekam zwei Kinder. Annelore arbeitete als
Sekretärin und Chef-Assistentin im finanziellen und juristischen
Bereich. Sie lebt heute (März 2006) mit ihrem Mann in Pennsylvania.
In einem Brief vom 12. März 2006 an das Maria-Theresia-Gymnasium
schreibt Annelore Haines:
»Zufällig bin ich jetzt auf die Website des MTG gestoßen und habe
mit besonderem Interesse das Schicksal der jüdischen Schülerinnen,
u.a. der Erika Charon, … verfolgt. Dadurch habe ich jetzt erst erfahren,
dass Erika in Auschwitz umgekommen ist. Ihr Schicksal bedrückt mich
sehr. Ich kann mich noch gut an sie erinnern, da sie direkt in der
Bank vor mir saß. …
Meine schöne Schulzeit in der Maria-Theresia-Schule, trotz der vielen
Fliegeralarme, bleibt mir in lebhafter, lieber Erinnerung.«
In einer E-Mail vom 22. März kommt Frau Haines auf die Reichspogromnacht
(9./10. November 1938) zu sprechen:
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Gertraud Fendt,
von 1957 bis 1990 Lehrerin und Vertreterin des Schul-leiters am
MT, 1938 zusammen mit
Erika Charon Schülerin der Klasse 1a, erinnert sich an den ersten
Schultag (G. Fendt: »Schulleben 1938–1946«, in: 100 Jahre Maria-Theresia-Gymnasium.
Festschrift zur 100-Jahr-Feier des Maria-Theresia-Gymnasiums,
Augsburg 1992, S. 44–60, hier S. 45):
»… Einzeln traten
wir vor das Pult, hinter dem freundlich lächelnd der Klassenlehrer
saß [Dr. Eduard Nübling]. Charon (wir wurden fast immer mit Nachnamen
angesprochen), ein blasses, etwas rundliches, recht verlegen wirkendes
Mädchen, trat vor. Die Vornamen konnte ich trotz meiner guten Position
in der ersten Bank nicht verstehen. ›Kommen deine Vorfahren aus
Frankreich?‹ fragte der Lehrer. Heftiges Kopfschütteln. ›Geh‹, sagte
er aufmunternd, ›das darfst du doch sagen! Franzosen sind ja keine
Juden. – Beruf des Vaters?‹ – ›Kaufmann.‹ – ›Konfession?‹ – Fast
nur gehaucht: ›Israelitisch.‹ – Da wurde er so rot, wie ich das
noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. ›Entschuldigung!‹ stammelte
er. – Das blasse Mädchen hatte schon Englischstunden gehabt, vom
Turnen war es aber befreit, es mied Kontakte mit den anderen, in
der Pause aber wollte man es nicht allein gehen lassen, da ging
immer eine neben ihm her und versuchte mit ihm zu sprechen, aber
es war sehr, sehr scheu. ...« |
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Gertraud Fendt
erinnert sich an einen damaligen Lehrer (ebd., S. 55):
»Dr. [Georg] Keßler war aber auch mutig in
seinen Äußerungen. Als wir Ägypten, Neues Reich, behandelten, sagte
er: ›Sie trieben Imperialpolitik, und das ist immer der Anfang vom
Ende.‹ – ›Aber das tun wir doch auch‹, wandte eine Schülerin ein.
Er hob die Brauen, sein linkes Augenlid zuckte, und dann entgegnete
er: ›Was ich gesagt habe, habe ich gesagt.‹
Diese Geschichte lieferten wir ein paar Jahre später schriftlich
an die für die Entnazifizierung zuständige Spruchkammer. Unser Lehrer
erfuhr das wahrscheinlich nie, aber es beschleunigte vielleicht
seine Wiedereinstellung.«
»Entnazifizierung«:
Verfahren gegen Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg.
So genannte Spruchkammern stuften die Betroffenen als Hauptschuldige,
Belastete, Minderbelastete, Mitläufer oder Entlastete ein. Der Fragebogen
des »Military Government of Germany« umfasste 131 Punkte, die detailliert
beantwortet werden mussten.
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Dr. Lotte Treves,
geb. Dann, in einem Brief vom 22. Dezember 2005 an die Projektgruppe:
»... Leider kann ich Ihnen die
versprochene Aufnahme von Prof. Zöllner nicht schicken; sie ist
verschwunden, was schade ist, denn sie zeigte ihn vor der Tafel
mit dem fast absolut genauen Kreis, den er zu zeichnen wusste, indem
er das Schultergelenk als den festen Punkt eines Zirkels benützte
und die Hand als die schreibende Spitze. Übrigens glaube ich, dass
ich einer der allerletzten Menschen war, die mit ihm gesprochen
haben. Ich war in den Universitätsferien von Turin daheim [im Sommer
1935] und er bat mich, zu ihm zu kommen, weil
sein Sohn Walter Medizin studieren wollte und, da er
›halbarisch‹
war, dies nicht in Deutschland konnte. Als ich zu ihm kam,
fand ich den Professor sehr leidend, er hatte die Wohnungstüre offen
gelassen, um nicht aufstehen zu müssen um mir aufzumachen. Er war
offensichtlich sehr gequält. Wir unterhielten uns eine Weile und
ich gab ihm die Informationen, die ihn interessierten; er entschuldigte
sich, dass er mich nicht an die Türe begleitete, und am nächsten
oder vielleicht übernächsten Tag fand ich seine Todesanzeige in
der Zeitung ...«
Zu Siegfried Zöllner siehe auch das Gespräch mit Gertrud
Prechter, geb. Sturzenegger. |
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Die 11-jährige
Hertha Frank emigrierte zusammen mit ihrer Mutter
Fanny
Frank, geb.
Mendelsohn, im Juni 1937 in die USA.
Aus einer E-Mail von Joan Stone, geb. Hertha Frank, vom 8. Juli
2005:
»Als ich von 1936 bis Juni 1937 die Maria-Theresia-Schule
besuchte, war Französisch die Fremdsprache, in der ich
unterrichtet wurde. Ein wenig erinnere ich mich immer noch an
das Französische.
Aber unglücklicherweise kam ich in den USA an, ohne Englisch zu
können – und ohne Geld. Uns wurde lediglich erlaubt, 10 Mark pro
Person mitzunehmen, was damals vier Dollars entsprach. Das
Fehlen von Englischkenntnissen verursachte anfangs Probleme, für
die Erwachsenen bei der Arbeitssuche, für die Kinder in der
Schule. Aber wir waren alle begierig, uns in der neuen Heimat zu
etablieren.«
(Übersetzung: Mischa von Perger) |
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Brief von
Sophie Rosenfelder, Mutter von
Selma Rosenfelder, aus Theresienstadt, nach der Befreiung im
Mai 1945.
Abschrift von Sophie
Rosenfelders Enkel
Hermann Steinberg (später Herman Stone), datiert
»Konradshofen, den 21.8.1945«.
Bei der Eröffnung der Ausstellung im Maria-Theresia-Gymnasium
(Herbst 2005) trug die Schauspielerin Karla Andrä diesen bewegenden
»Brief
aus Theresienstadt« vor. |
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Aus einem Brief
von Prof. Eugen Nerdinger an Arie Weil vom 17. Januar 1986, mit
einer Erinnerung an
Marianne Weil:
»Ich erinnere mich an Marianne sehr gut, weil sie eine Reihe hinter
mir saß, weil sie mir vertraute – auch darum, weil ich unter meinen
Freunden eine Reihe von Juden aus der Jugendbewegung hatte. Marianne
ist mir als mittelgroßes, schlankes Mädchen in Erinnerung, schwarzes
Haar, gescheitelt und in zwei kräftigen Zöpfen den Rücken hinabhängend.
Sie war sehr intelligent, in der malerischen und zeichnerischen
Darstellung sehr begabt und gewissenhaft. Ein bisschen spröde und
auf Distanz bedacht – angesichts einer begeisterten Hitlerjugendschaft
von Mitschülern nicht verwunderlich. Dennoch war sie mutig und stolz
... Frühjahr 1940: Auseinandersetzung in der Klasse von Prof. Fritz
Döllgast um eine Jüdin: Marianne Weil. Ihr war von einem mitstudierenden
Volksschullehrer vorgeworfen worden, in einer gegebenen Klassenaufgabe,
betitelt ›Leuchte‹, einen siebenarmigen Leuchter als Aufgabenlösung
abgeliefert zu haben, was er und schließlich die ganze Klasse als
einen Affront gegen die nationalsozialistischen Überzeugungen der
Schülerschaft bezeichnete.« |
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Ilse
Thanhauser-Baehr, Wir haben überlebt. Erinnerungen (unveröffentlicht,
geschrieben ca. 1993–1998).
»Jede Geschichte braucht eine Überschrift. Diesem Abschnitt meines
Lebens möchte ich die Überschrift geben:
›Wir haben überlebt‹
Ich widme den Bericht meiner Familie, damit sie alle wissen und
ihren Kindern und Enkeln erzählen können, welch schreckliche Zeiten
wir im 20. Jahrhundert durchmachen mussten.
Ich beginne die Geschichte meines Lebens mit dem Anfang.
Ich wurde am 23. April 1910, in der Nacht vor Pessach, [in Augsburg]
geboren. Meine Mutter hat mir erzählt, dass es eine schwere Geburt
war und dass sie Höllenqualen litt, ja fast gestorben wäre.
Wir waren eine praktizierende, nicht orthodoxe jüdische Familie.
Am Freitagabend und am Samstag gingen wir in die Synagoge, wo meine
Schwester Klara (Claire) und ich auch im Chor sangen ...« |
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Auszug
aus den Erinnerungen von Johanna Bernheim, geb. Bach, Schwester
von
Marie Bach:
»Meine Schwester [Marie], die jüngste von uns vieren und Hauswirtschaftslehrerin,
ging als erste [ins Ausland, und zwar] 1932 in die Schweiz. Sie
übersiedelte später nach Frankreich, stellte aber keinen Einbürgerungsantrag,
weil sie ihre Ferien mit uns in Deutschland verbringen wollte. Außerdem
besaß sie noch etwas Geld in Deutschland und wollte nicht den Großteil
durch Tausch verlieren. So besuchte sie uns jedes Jahr und gab dann
ihre Zinsen aus. Zuerst hatte sie die Erlaubnis der Devisenstelle
einzuholen und sich sogar persönlich in der nächsten Hauptstadt
vorzustellen (weil sie eine sogenannte ›Devisenausländerin‹ war).
In den letzten Jahren brauchte sie eine Bescheinigung vom Arzt meines
Vaters, um eine Sondererlaubnis für längere Besuche zu bekommen.
Es gab Nachfragen der Gestapo, aus welchen Gründen sie gekommen
sei, wie lange sie bleiben wolle, wo in Paris sie lebe, mit wem
sie sich treffe. Einmal erschienen sie unangemeldet ...« |
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Zwei
Briefe von Marie Bach aus dem Lager Gurs an ihre Schwester Hannah
Bernheim, USA:
»Lager Gurs, Block M, Baracke 21,
1. Mai 1941
Meine Lieben,
tausend Dank für Euren lieben Brief, der mich aus Marseille erreicht
hat. Ich war glücklich, Eure guten Nachrichten zu bekommen, vor
allem, dass es Dir gelungen ist, die Affidavits zu erhalten, liebe
Hannah. Es ist toll, dass Du das geschafft hast, in Anbetracht des
Alters der betreffenden Personen und des Verwandtschaftsgrads hat
das Affidavit bestimmt einiges gekostet. Natürlich sind das große
Sorgen, die nun auf Euch lasten, und ich werde meinen Teil davon
übernehmen, sobald ich kann. Bis zum Monat Juli sind alle Überfahrten
ausgebucht. Ich werde versuchen, durch das Hivern eine Beihilfe
zu bekommen. ...« |
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Brief
von Selma Cohen, geschrieben 1945 in Schweden, nach ihrer Befreiung
aus einem Arbeitslager bei Kiel:
»Holsbybrunn, den 11. August 1945
Liebe Ruth und Erna,
schon lange bemühe ich mich Eure Adresse zu erfahren, leider haben
meine Brüder in Sao Paulo bis dato außer meinem Telegramm noch keine
einzige Zeile von mir erhalten, obwohl eine ganze Anzahl Briefe
von mir unterwegs ist, so dass ich auf meine wiederholte Frage auch
keine Antwort haben kann. Der Kontakt mit Südamerika funktioniert
furchtbar schlecht, während der mit U.S.A. geradezu floriert. Diese
Woche erhielt ich den ersten Brief aus Sao und stehen auch von dort
noch die meisten – vorher abgesandten aus. Nun kam gestern meine
Kollegin Margot Stoppelmann von einer längeren Reise zurück und
überreichte mir Deine Zeilen lb. Ruth, die ich natürlich gleich
beantworten will.
Leider kann ich Euch nur sehr Trauriges berichten, aber so schwer
mir dies fällt, hat es ja keinen Zweck mit der Wahrheit zu jonglieren
...« |
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Joyce
Meltz, die Tochter von
Ruth Kahn, lebt mit Ehemann, Kindern und Enkeln in den USA.
Zu ihren aus Augsburg stammenden Verwandten gehören
Eva Eckert,
Elisabeth (Else)
Kahn und
Gertrud Lerchenthal. Aus einem Brief, den Joyce Meltz im November
2006 an die Projektgruppe schrieb:
»[Meine Mutter Ruth Rosenbaum, geb. Kahn,] war eine wunderbare Hausfrau.
Sie liebte das Kochen, ihren Garten und unser ›Häuschen‹ am Strand,
auch klassische Musik und Bridge.
Mein Vater Kurt Rosenbaum (er kam aus Gießen) emigrierte 1934 nach
Chicago, Illinois, kurz nachdem seine Zulassung aufgehoben worden
war – was ihm die Nazi-Regierung 1933 per Postkarte mitgeteilt hatte.
Er hatte an den Universitäten Frankfurt a. M. und Heidelberg studiert
und war Rechtsgelehrter geworden, in den USA aber musste er eine
andere Arbeit annehmen, um die Überfahrt seiner Eltern bezahlen
zu können. Schließlich wohnten sie alle in Philadelphia (meine Eltern
lernten sich durch beiderseitige Freunde in New York kennen), wo
ich 1943 geboren wurde. Mein Vater wurde Repräsentant einer Fabrik
für Büromöbel und war dabei recht erfolgreich. Meine beiden Eltern
lernten perfekt Englisch und waren in den USA völlig assimiliert
– genauso, wie sie es in Deutschland gewesen waren ...« |
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»Augenzeugin
von Geschichte. Deutschland in zwei Weltkriegen
Ich
wurde in Deutschland, im Dorf Buttenhausen, als ältestes von drei
Mädchen geboren. Als meine jüngste Schwester geboren wurde, war
ich drei Jahre und drei Monate alt. Ich erinnere mich deutlich daran,
wie die Hebamme das Neugeborene hochhielt und fragte: ›Ilse, möchtest
du deine neue Schwester sehen?‹ Ich blickte neugierig und glücklich
auf meine neugeborene Schwester. Als ich in das benachbarte Zimmer
sprang, sah ich zu meiner Überraschung, dass mein Vater eine bekümmerte
Miene machte. Mit drei Jahren konnte ich nicht verstehen, warum,
aber in späteren Jahren wurde es klar. Die Mutter meines Vaters
war bei einer Geburt gestorben, als er ein Jahr alt war, und das
Sprichwort ging: ›Wenn eine Mutter ein Kind zur Welt bringt, steht
sie mit einem Fuß im Grab.‹ Er war in Sorge um meine Mutter gewesen.
Würde sie heil davonkommen? Zum Glück tat sie es, und die bekümmerte
Miene verschwand. ...«
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Jean
Mar (Ilse Marx) erinnert sich an die Hochzeit ihres Onkels Jacob
Gruber mit
Ernestine Obernbreit, Augsburg, im Juli 1919.
»Eine Hochzeit im Sommer
Der jüngste Sohn meiner Großeltern diente vier Jahre lang (1914–1918)
in der deutschen Armee. Ein Jahr später war er verlobt. Zu jener
Zeit wurde das Hochzeitsmahl im Haus des Bräutigams abgehalten,
gewöhnlich im Wohn- und Esszimmer. Das Brautpaar, die Eltern und
alle Geschwister fuhren in einem Pferdewagen, genannt ›Viktoria-Kutsche‹
(es war das bevorzugte Reisemittel der Königin Viktoria), in die
Synagoge zur Hochzeits-Zeremonie, die an einem Sonntag stattfand.
Danach kehrten die Gäste zum Haus meiner Großeltern zurück, um das
Hochzeitsmahl einzunehmen. ...« |
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