Biografien   Ilse Thanhauser
Ilse Thanhauser
geb. 1910 in Augsburg, Vater Kaufmann

Ilses Vater, der Viehhändler Nathan Thanhauser (geb. 1879 in Augsburg), war ein Bruder von Frieda und Karoline Thanhauser. Ilses Mutter hieß Natalie, geb. Hochherr (geb. 1880 in Berwangen). So wie Ilse besuchte auch ihre ältere Schwester Klara die Maria-Theresia-Schule. Die beiden Mädchen hatten noch einen jüngeren Bruder namens Heinrich (geb. 1915).
Ilse besuchte die Maria-Theresia-Schule von 1924 bis 1926 in den Klassen 5a und 6a; vermutlich war sie 1920 in Klasse 1 eingetreten.
Im Mai 1925 feierte Ilse zusammen mit neun anderen jüdischen Mädchen ihre
»Konfirmation« in Augsburg (Batmizwah: Fest der religiösen Mündigkeit für jüdische Mädchen, kann individuell am Sabbat nach dem 12. Geburtstag des Mädchens begangen werden, wurde in Augsburg aber, ähnlich wie die protestantische Konfirmation, jährlich oder in noch größeren Abständen für mehrere Jahrgänge gemeinsam abgehalten).
Im Jahr darauf machte Ilse an der Maria-Theresia-Schule den Lyzeums-Abschluss. Über ihre Schulzeit und die ihrer jüdischen Mitschülerinnen sagt sie heute (E-Mail vom 1. März 2006): »Damals hatten wir überhaupt keine Probleme – absolut kein Unterschied zu den anderen.«
1932 wanderte Ilse als Au-pair-Mädchen nach Italien aus und heiratete 1936 in Mailand Giulio (Julius) Baehr aus Köln, der als Vertreter einer Pinselfabrik in Italien arbeitete. 1940 brach der Kontakt zu ihren Eltern und ihrem Bruder ab. Giulio Baehr musste untertauchen, Ilse und ihre Tochter Ruth wurden zunächst in einem kleinen Ort bei Perugia interniert. Als Ruth ernstlich erkrankte, wurde ihr als internierter Jüdin lange die angemessene ärztliche Behandlung verweigert; erst nach einem halben Jahr ließ man Mutter und Tochter unter Aufsicht in Bologna wohnen, damit Ruth in der dortigen Klinik behandelt werden konnte. Im Dezember
1943 konnte Ilse zusammen mit Giulio und Ruth wieder nach Norditalien fliehen; unter falschem Namen erwartete die Familie dort das Ende des Krieges und kehrte dann in ihre Mailänder Mietwohnung zurück. Ruth war durch die starke Verzögerung ihrer ärztlichen Behandlung geistig behindert.
Ilses Eltern und Bruder überlebten die Judenverfolgung nicht: Die Eltern wurden Anfang April 1942 nach Piaski in Polen verschleppt. Ilses Bruder Heinrich lebte seit Juni 1940 als Landarbeiter in einem »Jüdischen Umschulungslager« in Bielefeld, wo er faktisch Zwangsarbeit leistete. Über Zeitpunkt und Zielort von Heinrichs Deportation gibt es widersprüchliche Angaben; jedenfalls wurden alle bis dahin verbliebenen Insassen dieses Lagers im März 1943 nach Auschwitz deportiert.
Als Witwe lebte Ilse Baehr zusammen mit ihrer zweiten Tochter Nadia in der Nähe von Genua, zuletzt in einem Pflegeheim. Auf Italienisch verfasste sie einen autobiografischen Bericht. Nadia Baehr schrieb der Projektgruppe am 1. März 2006: »Voriges Jahr hat meine Mutter als Zeitzeugin in zwei Grundschulklassen über ihre Kriegserfahrungen gesprochen, nachdem die Lehrerinnen die Kinder anhand des Tagebuchs angemessen vorbereitet hatten; und am 27. Januar dieses Jahres haben sie meiner Mutter eine Karte geschickt, auf der sie sich bedanken, ›weil sie ihnen das Nicht-Vergessen gelehrt hat‹.«
Ilse Thanhauser Baehr ist 2009 gestorben.

(Diese Kurzbiografie beruht auf Angaben von Ilse Baehr selbst sowie von ihrer Tochter Nadia.)

Siehe
Monika Minninger, Joachim Meynert, Friedhelm Schäffer, Antisemitisch Verfolgte, registriert in Bielefeld 1933-45. Eine Dokumentation jüdischer Einzelschicksale, Bielefeld 1985, S. 221, Nr. 1051 (zu Heinrich Thanhauser).
Joachim Meyert, Friedhelm Schäffer, Die Juden in der Stadt Bielefeld während der Zeit des Nationalsozialismus, Bielefeld 1983, S. 103-106, 120f. (zur Deportation der Juden aus dem Bielefelder »Umschulungslager«).

zur Autobiografie (deutsch)

zur Autobiografie (italienisch)

Das USC Shoah Foundation Institute verzeichnet Video-Interviews von Überlebenden der Schoa, darunter Ilse Baehr, geb. Thanhauser.

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