Biografien   Selma Cohen
Selma Cohen
geb. 1903 in Köln, Vater Kultusbeamter in Augsburg, Halderstraße 8 / 0

Selmas Vater Sali Cohen (geb. 1868 in Borken, Westfalen) wurde 1917 als Schächter zu den Gemeindebeamten der israelitischen Kultusgemeinde Augsburg gezählt. Selmas Mutter hieß Malwine, geb. Horn (geb. 1868 od. 1869 in Geisa, Sachsen-Weimar).
Selmas Vater Sali war 1904 oder Anfang 1905 nach Augsburg gekommen, zunächst als Vertreter von Ernst Fränkl (geb. 1874), der in der jüdischen Gemeinde Religionslehrer war, zu dieser Zeit aber, nach der Promotion 1903, sein Buch Über Vorstellungs-Elemente und Aufmerksamkeit (Augsburg 1905) vorbereitete. Neben der Betätigung als Kultusbeamter war Sali auch Agent mehrerer Versicherungen. Selma hatte zwei in Köln geborene Geschwister, darunter Bruder Julius (geb. 1899); 1905 kam noch ein Bruder namens Erich hinzu.
Selma besuchte die Maria-Theresia-Schule von 1913 bis 1916 in den Klassen 1–3. Im Jahr des Kriegsendes 1918 feierte sie, gemeinsam mit ihrer früheren Schulkameradin
Marie Bach, ihre »Konfirmation« in Augsburg (Batmizwah: Fest der religiösen Mündigkeit für jüdische Mädchen, kann individuell am Sabbat nach dem 12. Geburtstag des Mädchens begangen werden, wurde in Augsburg aber, ähnlich wie die protestantische Konfirmation, jährlich oder in noch größeren Abständen für mehrere Jahrgänge gemeinsam abgehalten).
Spätestens ab Mai 1930, als das Schächten in Bayern verboten wurde, konnte Sali Cohen sein Amt in Augsburg nicht mehr ausführen. Seine Ehefrau Malwine starb 1933. Sali zog nach Düsseldorf. Anfang 1939 kehrte er in seine Geburtsstadt Borken zurück, einige Monate später folgte Selma; Vater und Tochter wohnten in der Heidener Straße 48. Schon im Juni 1939 aber emigrierte Sali nach Brasilien. Selma wechselte im Juni 1940 die Wohnung; ihre letzte Adresse war Butenstadt 4. Am 11. Dezember 1941 wurde sie zuerst nach Münster gebracht, dann am 13. Dezember zusammen mit 389 anderen Juden in das »Ghetto« Riga deportiert. Dorthin kam in diesen Tagen auch Sidonie Münzer.

»In den beiden Regierungsbezirken
Münster und Minden des Gaus Westfalen-Nord leiteten die Gestapoleitstelle Münster und die Gestapo-Außendienststelle in Bielefeld die Instruktionen zur Durchführung der ›Endlösung‹ an die Oberbürgermeister und Landräte des Gebietes weiter. … Das Münsterländische und Bielefelder Soll lag bei je 400, das Kontingent des Osnabrücker Einzugsbereichs bei 200 Personen.« Aus Borken wurden die Juden in Omnibussen, ihr Gepäck auf Lkw am 11. Dezember nach Münster gebracht. »Während der Fahrt [von Münster nach Riga] hatte ein jüdischer Verantwortlicher … für Ordnung, Ruhe und Sauberkeit zu sorgen. Dieser und die begleitenden jüdischen Ärzte und Krankenschwestern allein waren befugt, im ersten Waggon der 3. Klasse zu fahren und während eines Haltes den Zug zu verlassen« (G. Möllenhoff, R. Schlautmann-Overmeyer).
Am 16. Dezember traf der Zug im Bahnhof Skirotava bei Riga ein. »Zwar reichte der den Deportierten gelassene Mundvorrat, aber es gab kein Wasser. Bei der tagelangen Fahrt litten alle unter zunehmendem Durst. Wenige Transporte erhielten die Möglichkeit, Wasser zu besorgen, wenn der Zug längere Haltepausen einlegte. … Der Winter 1941/42 gehörte im vergangenen Jahrhundert zu den kältesten in Mittel- und Osteuropa. Da die Deportationszüge mit nur einer Lokomotive fuhren, war der Ausfall der Heizung in den Waggons vorprogrammiert. … In Skirotava wurden die Deportierten von ihren künftigen Peinigern erwartet. … Die nach mehr
als dreitägiger Fahrt steif gewordenen Menschen … mussten zusehen, dass sie mit ihrem Handgepäck auf dem Güterbahnhof Aufstellung nahmen. … Hier oder später nach der Ankunft im Ghetto stellte sich Kurt Krause als Ghettokommandant vor, forderte zur Abgabe von Wertsachen auf und drohte jedem, der versuchen würde, sich von der Kolonne zu entfernen, mit Erschießen. Das Gepäck sollte man zurücklassen, es würde später ins Ghetto gebracht werden. Wer nicht genug Kraft hatte, um energisch seinen Rucksack aufzusetzen, gelangte unter Umständen nur mit einem Gepäckstück ins Ghetto. Das in den Abteilen zurückgelassene Gepäck sowie der Inhalt der Güterwagen wurde, nach Transporten sortiert, zur allgemeinen Benutzung in die Kleiderkammer des Ghettos gebracht. … In dem kalten, feuchten Klima … quälten sich die Menschenkolonnen die mehrere Kilometer lange Strecke vom Bahnhof bis zum Ghetto … Der Anblick, den das Ghetto den Deportierten bot, war schockierend.« Erst vor wenigen Tagen waren die vorigen Bewohner, lettische Juden, teils ermordet, teils anderswo untergebracht worden. »Treppenhäuser und Wohnungen machten einen verwüsteten Eindruck. Wie überstürzt der gewaltsame Aufbruch gewesen sein muss, zeigten die gefrorenen Essensreste auf den Tischen und in den Küchen. … Die Neuangekommenen, von denen sich acht bis zehn Personen zwei kleine Zimmer teilten, mussten sich schnell auf die widrigen Umstände einstellen. Und in der Tat fanden sich auch volle Kleiderschränke und Holzvorräte vor, so dass ein Anfang gemacht werden konnte. Katastrophal waren die hygienischen Verhältnisse, da die Wasserleitungen eingefroren waren« (W. Scheffler). Die meisten Deportierten starben während der folgenden Jahre bei der Zwangsarbeit oder durch Krankheit oder wurden erschossen.
Selma überlebte die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen und wurde im Februar 1945 von Riga ins Hamburger Gefängnis, im April ins »Arbeitserziehungslager« Kiel-Hassee deportiert. Ende April und Anfang Mai 1945 befreiten britische Truppen und das Schwedische Rote Kreuz dieses Lager. Drei Monate später schrieb Selma einen Brief an zwei Freundinnen und berichtete darin, wie es ihr in den Lagern ergangen war. Zu dieser Zeit hielt sie sich in Schweden auf, später wanderte sie nach Sao Paulo in Brasilien aus, wo ihre Brüder lebten.
Eine jüngere Leidensgenossin Selmas, Hilde Sherman-Zander, hat dieselben Stationen durchgemacht: Riga, Hamburg-Fuhlsbüttel und Kiel-Hassee. In ihren Erinnerungen (Zwischen Tag und Dunkel, 1984) schildert sie, wie die jüdischen Häftlinge durch die Bemühungen von Graf Folke Bernadotte – damals Vizepräsident des schwedischen Roten Kreuzes – aus dem Lager Kiel-Hassee freigekauft wurden; andere Häftlinge wurden von der SS erschossen. Wenig später erreichten britische Truppen das fast menschenleere Lager.

zu Selma Cohens Brief

Siehe Richard Grünfeld, Ein Gang durch die Geschichte der Juden in Augsburg. Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Augsburg am 4. April 1917, Augsburg 1917, S. 72; wiederabgedruckt in: Stiftung Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben (Hrsg.), 10 Jahre Wiedererrichtung der Synagoge Augsburg – 10 Jahre Gründung des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben 1985–1995, Augsburg 2001, Anhang.
Genealogie und Kurzbiografie von Selmas Vater Sali Cohen auf der Website eines Borkener Schülerprojekts von 2004/05, Gegen das Vergessen. Das Schicksal jüdischer Familien in Borken (Westf.) und Gemen zur Zeit des Nationalsozialismus:  http://suomenhirvi.piranho.de/gegenvergessen/ (Stand: Februar 2008).

Literatur:
Gisela Möllenhoff, Rita Schlautmann-Overmeyer, »Die Deportation aus Münster – Osnabrück – Bielefeld, 13. Dezember 1941. Münster«, in: »Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.« und »Riga-Komitee der deutschen Städte« gemeinsam mit der Stiftung »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum« und der Gedenkstätte »Haus der Wannsee-Konferenz« (Hrsg.), Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003, Bd. 2, S. 723–726.
Wolfgang Scheffler, »Das Schicksal der in die baltischen Staaten deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden 1941–1945. Ein historischer Überblick«, ebd., Bd. 1, S. 1–43.
Aloys Nacke, »Judendeportationen im Kreis Borken. Ein Beitrag zur Geschichte der ›Endlösung‹«, in: Heimatverein Vreden (Hrsg.), Studien zur Geschichte der Juden im Kreis Borken, Vreden 1983, S. 163–184.
Hilde Sherman-Zander, Zwischen Tag und Dunkel. Mädchenjahre im Ghetto, Frankfurt a. M. – Berlin – Wien 1984.

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